Natalia Jakubowska, Trans.iNFO: Der große Boom im E-Commerce in Deutschland scheint vorerst vorbei zu sein. Laut jüngsten Zahlen des bevh ist der Brutto-Umsatz mit Waren im Gesamtjahr 2023 erstmals zweistellig um 11,8 Prozent auf 79,7 Milliarden Euro, nach 90,4 Milliarden. Euro im Jahr davor gefallen. Woran liegt das? Tatsächlich nur an der schlechten wirtschaftlichen Lage, die die Kaufbereitschaft vertreibt?
Prof. Dr. Christoph Tripp, Professor für Distributions- und Handelslogistik an der Technischen Hochschule Nürnberg: Nein, solche Entwicklungen sind immer multi-kausal zu betrachten. Richtig ist, dass die Inflation und die Energiepreissteigerungen der letzten Jahre die verfügbaren Einkommen der Haushalte kurzfristig reduziert haben und es zu Reallohnverlusten kam. Man kann von einer ausgeprägten „Konsum-Triage“ sprechen, in der Kunden über alle Sortimentsbereiche hinweg zielgerechter und vor preissensibler einkaufen. Gleichzeitig führen die zahlreichen europäischen und globalen Krisenherde zu Unsicherheiten und allgemeiner Kaufzurückhaltung. Zudem gab es gewisse, wenn auch geringe Rückverlagerungseffekte aus dem während der Corona-Pandemie stark gewachsenen Onlinehandel in den Stationärhandel. Ein letzter Aspekt: Interessant zu beobachten ist, dass die B2C-Paketmengen im Weihnachtsgeschäft 2023 gestiegen sind, währenddessen die Umsätze im Onlinehandel gesunken sind. Ursächlich dafür dürften die geringeren Warenkörbe, aber auch die zunehmende Rolle internationaler Plattformen sein. Wachstum ist also nicht weg, sondern nur woanders! Langfristig wird die Verschiebung von Stationärumsätzen in den Onlinehandel weiter anhalten, wenn auch langsamer als in den letzten Jahren.
Vor zwei Jahren hat die Statista-Studie Digital Market Outlook 2022 prophezeit, dass Deutschland bis 2025 zur E-Commerce Nation Nr.1 aufsteigen wird. Ist das noch möglich?
Die E-Commerce Umsätze in den USA sind ca. 100 Mal so hoch wie die in Deutschland. Vergleicht man den chinesischen Onlinemarkt mit dem deutschen E-Commerce-Markt, fallen die Unterschiede mit dem Faktor 300 (!) noch extremer aus. Relevant für die Betrachtung über die Stärke des E-Commerce-Marktes sind allerdings nicht die Umsätze bzw. Online-Umsatzanteile am gesamten Handelsumsatz (diese liegen in den USA und in Deutschland mit ca. 15 Prozent auf vergleichbarem Niveau), sondern die Technologie-Kompetenzen, der Innovationsgrad und die Zukunftsfähigkeit der Geschäftsmodelle. Es gibt in Deutschland zwar einen ausgereiften E-Commerce-Markt, aber nur wenige aus Deutschland stammende Unternehmen mit internationaler Relevanz.
Heutzutage wird viel über die Verschmelzung von Online-Handel und dem stationären Geschäft gesprochen. Wie kann man sinnvolle Synergien zwischen dem digitalen und dem stationären Handel schaffen – ohne dass sich beide Kanäle kannibalisieren?
Bei der Verschmelzung von Stationär- und Onlinehandel geht es in erster Linie nicht um konkurrierende Kanäle, sondern um den Kunden. In den Generationen Z und Alpha findet Bedarfsweckung schon heute intensiv über Social Commerce, Social-Media-Apps und zunehmend im Metaverse statt. Zukünftig wird eine „Kanal Egal“-Einstellung das Kaufverhalten der Kunden bestimmen. Händler müssen „fit“ für den Omnichannel-Handel werden, in dem die Absatzkanäle technisch und organisatorisch integriert werden. Nach dem Motto „Kunde vor Kanal“ geht es darum, den Kunden in den Mittelpunkt zu stellen und nicht die Machbarkeiten und Optimierungen der eigenen Organisation. Technologien sind ein wesentlicher „Enabler“ zur Lösung des Spannungsfeldes zwischen Effizienz und Kundenzentrierung. Im Omnichannel erfolgreiche Händler bieten bereits seit langem verknüpfende Serviceoptionen, wie z.B. Click & Collect, Return in Store oder kanalübergreifende Kundenprogramme an. Das ist aber nicht ausreichend, denn Omnichannel muss ganzheitlich gedacht werden. Dazu gehören vor allem harmonisierte IT-Architekturen, integrierte Logistiksysteme und entsprechende Anreizsysteme für Filialen und Mitarbeiter (vor allem in Strukturen mit selbständigen Händlern), um Omnichannel-Konzepte erfolgreich zu betreiben.
Chinesische Online-Anbieter erfreuen sich in Deutschland immer größerer Beliebtheit. So kommt beispielsweise die App Temu bei den Endkunden in Deutschland sehr gut an. Was steckt hinter dem Erfolg?
Temu verfolgt einen sog. „Factory-to-Consumer“-Ansatz. Dies bedeutet, dass die Plattformen ihre Waren direkt ab Hersteller/Händler in China über Fulfillment Center und Luftfrachttransporte an Kunden weltweit distribuieren. Das Unternehmen verzichtet damit auf weitere Handelsstufen (Cut out the Middleman). Temu und Shein sind keine typischen Shopping Apps und keine reinen Social-Media-Anwendungen, sondern sind Kombinationen aus beidem in Form sogenannter Social Media Commerce Plattformen. Temu setzt bewusst auf eine Mischung aus Social-Media-initiierter Bedarfsweckung (z.B. massiv über Tiktok), spielerischem Einkaufen (der sog. „Gamification“) und einem intelligent lancierten Schneeball-Prinzip (über sog. „Affiliate-Codes“). Daten aus den USA zeigen, dass alle Generationen über alle Einkommensgruppen hinweg von Temu angesprochen werden und dort bestellen.
Wie ist es aber möglich, Produkte so billig nach Deutschland zu liefern?
Die mit den Herstellern verhandelten Preise sind Großhandelspreise, die ca. 50 Prozent unter den eigentlichen Verkaufspreisen liegen. Durch das Aussparen weiterer Handelsstufen (Cut out the Middleman) werden diese Preise mit geringem Aufschlag (sog. „Take-Rate“ oder Provision der Plattformen, die aktuell wohl noch deutlich unter den marktüblichen Konditionen von 15-20 Prozent liegen) an Endkunden verkauft. In den USA gibt es Schätzungen bzgl. Temu, dass pro Sendung ca. 5-10 US-Dollar Verlust geschrieben wird. Es geht also im Moment eher um Markenbildung und Marktverdrängung, als um schnelle Profitabilität. Experten in den USA gehen von einem 6-Jahres-Plan bei Temu aus, bis Profitabilität erreicht werden soll (Amazon hat ca. 10 Jahre benötigt).
Ist Temu also eine ernstzunehmende Konkurrenz für Anbieter wie Amazon und Ebay?
Die Temu-App stand im vergangenen Jahr mit über 300 Millionen Downloads weltweit in fast allen relevanten Ländern – Ausnahmen sind China und Indien – an der Spitze der Download-Charts. Im chinesischen Heimatmarkt steht Temu in einem intensiven Wettbewerb mit Alibaba, JD.com und vielen anderen preisaggressiven Plattformen. Zudem sind die Wachstumsmöglichkeiten in China in Teilen beschränkt. Insofern liegt es nahe, dass Temu international expandiert, vor allem in Märkte mit besonderem Umsatzpotenzial. Dazu zählen u.a. die USA, Großbritannien, Japan und Deutschland, in denen es noch kein vergleichbares Geschäftsmodell gibt.
Temu fokussiert sich auf Non-Food-Ware (Haushaltsartikel, Deko, kleine Haushaltsgeräte, auch Fashion) und steht enorm im Wettbewerb mit Amazon, Otto und Ebay, mit den Nonfood-Discountern (Action, Tedi, Kodi) und mit Händlern, die Aktionsartikel anbieten (Aldi, Lidl, Tchibo, Baumärkte).
Die Amazon-App öffnet man, wenn man etwas Bestimmtes braucht. Die Temu-App öffnet man, ohne zu wissen, was man gleich kaufen wird. Temu konzentriert sich also weniger auf die bislang im Onlinehandel bekannte Bedarfsdeckung, sondern auf die von vielen, vor allem stationären Händlern verfolgte Strategie der Bedarfsweckung und der Spontankäufe.
Aber irgendwelche Schwachstellen müssen chinesische Online-Plattformen doch auch haben?
Kritik gibt es v.a. bzgl. der Verzollung. Man unterstellt beiden Unternehmen, die Zollgrenze (in der EU (150 Euro, in den USA gilt die “de minimis” Grenze von 800 US$) bewusst auszunutzen (z.B. durch Splitting von Sendungen). Hinzu kommen Berichte über Qualitätsmängel, fehlender Qualitätsprüfung und fehlender CE-Kennzeichnung, Datenschutz, Konsumentenbeeinflussung (Glücksräder etc.) sowie natürlich über den Versand per Luftfracht. Dieser verursacht bei einem 1 kg Paket ca. 50x mehr CO2 als ein konsolidierter Transport per Seefracht (nachrechenbar auf www.carboncare.org nach DIN-Norm 14083:2023). Temu erwägt allerdings offensichtlich, Fulfillment Center in den USA und Europa aufzubauen, um den aktuell enormen Lieferzeit-Nachteil (7-9 Tage) zu reduzieren. In den USA hat Temu den Marktplatz bereits für US-amerikanische Händler geöffnet (aktuell ca. 1.000 chinesische Händler mit Lagern in den USA), europäische Händler/Hersteller sollen folgen.
Welchen Einfluss werden Temu&Co langfristig auf den deutschen und europäischen E-Commerce haben?
Ich schätze, dass aktuell 1-2 Mio. Temu-Sendungen pro Tag in Europa zugestellt werden. Bei einem für Temu vermuteten Marketing-Budget von 3-5 Mrd. US$ für 2024 sind bereits kurzfristig deutliche Mengensteigerungen zu erwarten. Entscheidend sind allerdings nicht die Mengenentwicklungen, sondern der damit verbundene Trend vom klassischen Onlinehandel zum Social Commerce. Bislang setzen nur wenige Unternehmen bei ihrer Kundenansprache so intensiv auf die Social-Media-Kanäle, wie z.B. auf TikTok oder Instagram, auf denen Millionen von Menschen täglich zunehmend viel Zeit verbringen. Getriggert durch Social Media schaut man mehrmals täglich in die Apps und lässt sich von neuen Artikeln und Sonderangeboten inspirieren. Das ist erlebnisorientierte Bedarfsweckung, die es in dieser Form auf anderen Plattformen in Europa noch nicht gibt. Die Möglichkeiten, die solche Live-Shopping-Formate bieten, sind vermutlich enorm. Händler sollten Temu & Co. nicht ausschließlich als Gefahr für das eigene Geschäftsmodell sehen, sondern überlegen, was sie daraus für den eigenen Onlinehandel lernen können und wie sie sich selbst positionieren (Werteorientierung und Nachhaltigkeit). Nichtstun wäre fatal, denn es besteht die Gefahr, dass der europäische Handel ansonsten die Entwicklung eines neuen Marktstandards verpasst und wieder mal nur Nachzügler und nicht Innovationsführer ist.
Mit TikTok Shopping startet zudem bald eine neue Plattform im europäischen Onlinehandel mit einem vergleichbaren Geschäftsmodell. In Großbritannien ist TikTok Shopping bereits verfügbar. Alle anderen großen Plattformen, wie z.B. Meta mit Facebook, Instagram und WhatsApp, überlegen und testen seit vielen Jahren, wie sie ihre einzigartige Nutzerbasis gezielt für Shopping-Anwendungen nutzen können. Die bislang weitgehend erfolglosen Versuche von Facebook und Instagram zeigen allerdings, dass dies bei auf Social-Media-Kommunikation ausgerichteten Kunden herausfordernd ist. Der überwiegenden Zahl von Nutzern von Social-Media-Plattformen geht es vor allem um Kommunikation und Information, nicht um Warenkäufe. Insofern kann eine überzogene Ausrichtung auf E-Commerce-Geschäfte, die in Social-Media-Apps integriert sind, zu Nutzerverlusten führen. Die Strategie von Temu ist anders zu bewerten: Sie verknüpfen Social-Media-Inhalte intelligent und datengestützt mit einer separaten Shopping-App und lassen den Nutzern mehr Wahlfreiheit in Bezug auf mögliche Käufe. Insgesamt ist das vermutlich eher erfolgversprechend.
In einem Beitrag für die Deutsche Verkehrs-Zeitung haben Sie das Modell von Temu als Discount-orientiertes Social-Commerce-Modell bezeichnet. Ist das das Marktplatz-Modell der Zukunft?
Nein, das kann man so nicht sagen. Vor allem die Ausrichtung auf möglichst günstige und möglichst viele Artikel spricht nur bestimmte, preissensible und auf wenig Nachhaltigkeit bedachte Kundengruppen an. Von besonderem Interesse ist jedoch die ausgeprägte Cut-out-the-Middleman-Strategie, bei der auf die Zwischenschaltung weiterer Handelsstufen verzichtet wird. Ähnliche Strukturen lassen sich in den in den letzten Jahren stark gewachsenen Direct-to-Consumer-Modellen (D2C) vieler Konsumgüterhersteller finden, die über eigene Onlineshops direkt an Endkunden vertreiben (wie z.B. Adidas, Nike, Olymp etc.). Vor allem Temu verfolgt ein echtes „Seller-Playbook“, indem es Herstellern ein Andocken an die Plattform und die Logistik möglichst einfach machen möchte. Insofern übernimmt Temu (bzw. die für Temu tätigen Logistikdienstleister) momentan viele logistische Aufgaben und hat vergleichsweise niedrige logistische Anforderungen an die Hersteller (anders bei Amazon). Das könnte für viele kleine Hersteller und Händler interessant sein und Temu zu einer Alternative zu den anderen Marktplatz-Anbietern werden lassen.
Wie hat sich das Kaufverhalten in den letzten Jahren verändert?
Die zunehmende Digitalisierung in allen Lebensbereichen lässt die Bedeutung von Convenience weiter steigen. Es hat sich ein „on Demand“-Verständnis entwickelt, in dem Kunden eine maximale Produktauswahl und eine hohe bzw. schnelle Verfügbarkeit erwarten. Gleichzeitig steigt das Bedürfnis nach individuellen bzw. kuratierten sowie ökologisch nachhaltigen Angeboten, von der Kundenansprache bzw. Suche, bis zum Erhalt der Ware. Besonders herausfordernd für Händler ist allerdings die zunehmende Illoyalität von Kunden, die – vor allem im Onlinehandel – mit wenig Aufwand internationale Preis- und Leistungsvergleiche vornehmen und den Händler wechseln können. Viele Händler reagieren mit umfassenden Bonusprogrammen (z.B. Amazon Prima, Douglas Beauty Card etc.) darauf und versuchen, die Kundenbindung über eine Erhöhung der „Wechselkosten“ zu steigern. In Konsequenz daraus werden Lieferservices stärker individualisiert in Bezug auf Orte, Zeiten und Zustelltage der Kunden. Es wird immer mehr Geschäftsmodelle im Handel geben, die nach dem Prinzip „Sell everywhere, deliver anywhere“ eine noch intensivere Personalisierung von Services anbieten. Zur Erbringung ist Kundennähe essentiell, geografisch und daten-bezogen. Damit sind vor allem Daten über das Kaufverhalten entlang der Customer Journey, logistische Präferenzen, kundenindividuelle Lebenssituationen, regionale Sortimentsspezifika sowie zukünftige Bedarfe gemeint. Dies untermauert den bereits seit Jahren zu erkennenden Trend einer weiteren Dezentralisierung von Logistiknetzwerken.
Wird Gen Z die Zukunft des E-Commerce bestimmen?
Das macht sie bereits heute schon! Die Generation Z repräsentiert ca. 13 Prozent der Bevölkerung in Deutschland und wird 2025 ca. 30 Prozent des Bruttoarbeitseinkommens erwirtschaften. In Bezug auf die Zukunft sind eher die ab 2011 geborenen jungen Menschen der Generation Alpha relevant. Sie haben eine noch ausgeprägtere „Always On“- und „Mobile First“-Mentalität als die Generation Z und ist vollständig digital sozialisiert. Wichtig ist allerdings zu berücksichtigen, dass viele der jungen Menschen in den Generationen Z und Alpha nicht nur Kunden, sondern auch Entscheider in Unternehmen (Lieferanten, Business-Kunden) sind bzw. werden!
Prof. Dr. Christoph Tripp ist 49 Jahre alt und lehrt als Professor für Distributions- und Handelslogistik an der Technischen Hochschule Nürnberg. Er verfügt über langjährige Praxis- und Beratungserfahrungen und ist als Speaker, Gutachter, Moderator, Podcaster und Kolumnist tätig. Zudem ist er Autor des Buches „Distributions- und Handelslogistik – Strategien der Omnichannel-Distribution im Handel