Eine Industrie im Umbruch
Der stationäre Einzelhandel steckt in Schwierigkeiten, das ist nichts Neues. Der Niedergang der Branche begann mit dem Zusammenbruch und der Schließung zahlreicher Geschäfte in der ganzen Welt, betroffen waren insbesondere die großen Ketten nach dem Finanzcrash 2008. Der entscheidende Faktor dieser Entwicklung war vermutlich der Aufstieg des Onlinehandels. Die Revolution des Online-Shoppings hielt im Jahr 2009 mit der kommerziellen Einführung von 4G-Geräten Einzug in den Massenmarkt. Nun konnten die Menschen das Internet nutzen, um jederzeit und überall einzukaufen. Die Zeiten waren vorbei, in denen Kunden auf Geschäfte in ihrer Nähe beschränkt waren und in die Läden kommen mussten, um Waren einzukaufen und zurückzugeben. Jetzt hatte der Verbraucher die Wahl, was, wo, wann und auf welchem Gerät er Produkte kaufen wollte. Entscheidend war auch, wohin er seine Produkte liefern lassen wollte.
Für Einzelhändler, deren Geschäftsmodell ausschließlich darauf beruht, dass der Kunde ungeachtet der Unannehmlichkeiten in ihre physischen Geschäfte kommen sollte, ist das Ende nahe. Anpassen oder bankrott gehen ist die Devise – eine Herausforderung, die viele nicht angenommen, geschweige denn erfolgreich bewältigt haben. Große Namen wie die Videothekenkette Blockbuster, der Spielwarenhändler ToysRUs und den Musik- und Filmhändler HMV kamen durch ihre Unfähigkeit, sich an das digitale Zeitalter anzupassen, unter die Räder. Besonders hart traf es die großen Kaufhausketten, wie JC Penny, Sears, Debenhams und Woolworths. Die Unternehmen mussten Konkurs anmelden und stehen heute eher für Erinnerungen an das Einkaufserlebnis der vordigitalen Konsumära. Zusammen mit ihnen erlebten auch die Einkaufszentren ihren Niedergang. Weltweit mussten und müssen immer mehr Einzelhandelsgeschäfte schließen, weil sie nicht mehr profitabel wirtschaften können. In der Folge verwandelten sich viele Einkaufsstraßen und Innenstädte zu tristen Orten. Die Zukunft der physischen Läden sah düster aus.
Nun beschleunigt die Coronakrise den digitalen Wandel im Einzelhandel rasant, mittlerweile stehen mehr Geschäfte leer als je zuvor.
Eine Industrie im Wandel
Das Jahr 2020 wirkte sich für physische Einzelhändler verheerend aus. Während der Coronakrise, in der die Bevölkerung aufgefordert wurde, zu Hause zu bleiben, Masken zu tragen und Körperkontakt zu vermeiden, erschien das Shoppen in physischen Läden als Freizeitbeschäftigung vollkommen abwegig. Das traditionelle Einkaufen entwickelte sich zu einer reinen Notwendigkeit, die die Menschen zu vermeiden versuchten. Beispielsweise mussten viele Kleidungsgeschäfte ihre Umkleidekabinen schließen, wodurch der Vorteil, die Kleidung vor dem Kauf anzuprobieren, aufgehoben wurde. Die stationären Geschäfte hatten in dieser Hinsicht ihren entscheidenden Vorteil gegenüber dem Online-Handel verloren.
Doch während physische Geschäfte unter der Krise litten, erlebte der E-Commerce einen Boom. Konsumenten, die viel mehr Zeit als üblich zu Hause verbringen und versuchen, direkte Kontakte zu vermeiden, kamen diesen Anbietern sehr entgegen. Im Jahr 2019 lagen die Einzelhandelsumsätze im E-Commerce weltweit bereits bei 3,5 Billionen Dollar. Nun wird prognostiziert, dass sich die Umsätze bis 2022 auf 6,5 Billionen Dollar fast verdoppeln werden. Amazon wuchs in den 2010er Jahren rasant und erzielte im Jahr 2019 einen Umsatz von rund 280 Milliarden Dollar. Vor zehn Jahren hätten die wenigsten Analysten und Experten damit gerechnet. Die Coronakrise beschleunigt dieses Wachstum noch weiter. Im zweiten Quartal 2020 lagen die Einnahmen von Amazon bei fast 90 Milliarden Dollar und damit 40 Prozent höher als im Vorjahr. Der transformative Einfluss der Coronakrise auf den Einzelhandel geht aber weit über eine kurzfristige Steigerung der Verkäufe durch E-Commerce hinaus. Die Krise bewirkt eine grundlegende Veränderung der Einkaufsgewohnheiten (siehe Tabelle 1).
Verhaltensänderungen durch Corona | Disruptive Folgen |
Die Bevölkerung ist gezwungen, Online-Shopping statt physischem Einkaufen, Lebensmittellieferungen statt Restaurants zu nutzen | E-Commerce-Boom, Änderung der Geschäftsmodelle von Lebensmittelhändlern hin zu Lieferdiensten |
Zunehmende Abneigung gegen Bargeld wegen Risiko der Virenübertragung | Kontaktloses Bezahlen vielerorts obligatorisch, Nachzügler nutzen die Technologie |
On-Demand-Zugang zu Gütern und Dienstleistungen | Zunahme der Same-Hour-Lieferangebote |
Lokal produzierte Waren und Dienstleistungen favorisiert | Nachfrage nach frischen lokalen Produkten – Hofläden, Metzgereien, Bäckereien etc. |
Arbeiten von zu Hause ist das neue Normal, Boom bei der Telepräsenz und im Remote Working | Mehr Hauslieferungen, weniger Besuche in Geschäften zur Mittagszeit oder nach der Arbeit |
Soziale Distanzierung / Große Versammlungen vermeiden | Rückgang der gruppenbasierten Aktivitäten – Shoppen, Kino, Theater etc. |
Tabelle 1: Verhaltensänderungen aufgrund der Coronakrise und deren Folgen.
Ich habe die Auswirkungen der Coronakrise auf den Online-Handel bereits in dem Artikel „COVID-19 als Trendwende zum eCommerce?“ thematisiert. Der Beitrag geht näher auf die Auswirkungen des digitalen Wandels für den Handel und die Veränderungen im Konsum ein und beschreibt die daraus resultierenden Entwicklungen. Die gesamte Einzelhandelsbranche und die Lieferkette, die sie unterstützt, verändern sich strukturell. Denn hinter den Kulissen entwickelt sich eine Welle bahnbrechender Technologien, die kurz davorsteht, im Mainstream anzukommen. Die Pandemie hat hierfür optimale Bedingungen geschaffen.
Eine transformierte Industrie
Fangen wir zu Hause an. Amazon gibt sich nicht damit zufrieden, das Wettrennen um die Entwicklung des größten Online-Marktplatzes der Welt zu gewinnen. Der Konzern möchte vielmehr alle möglichen Unannehmlichkeiten für die Einkäufer beseitigen. Was ist also bequemer, als die Waren allein in einem einzigen Online-Shop zu kaufen? Was wäre, wenn Sie nicht online gehen müssten? Wie wäre es, wenn Sie einfach laut aussprechen würden, welche Produkte Sie bestellen möchten und die Waren dann innerhalb von Stunden bei Ihnen vor der Haustüre stünde? Genau das hatte Amazon im Sinn, als der Onlineriese 2015 Amazon Echo auf den Markt brachte. Echo wird von dem intelligenten Sprachassistenten Alexa unterstützt und ermöglicht den Nutzern von Amazon Prime, Artikel in ihren Einkaufswagen zu legen, indem sie Alexa einfach verbal darum bitten. Sobald die Bestellung abgeschlossen ist, können sie zur Kasse gehen und die Bestellung wird automatisch bearbeitet und ausgeliefert.
Amazons Angebot an Geräten, die mit Alexa arbeiten.
Amazon Echo schuf den Markt für Smart Speaker. Andere Technologieunternehmen wie Google brachten schnell das konkurrenzfähige Produkt Google Home heraus, um eine Marktdominanz von Amazon zu verhindern. Google ist jedoch ein Technologieunternehmen und kein Einzelhändler. Während Google Home zwar Musik abspielen und Fragen beantworten kann, war das Gerät lange nicht in der Lage, Einkäufe durchzuführen. Daher ging Google eine Partnerschaft mit Walmart im Jahr 2019 ein. Jetzt können die Kunden von Google Home einfach sagen: „Okay, Google, rede mal mit Walmart“ und Artikel in ihren Einkaufswagen legen, indem sie ihre Bestellungen verbal aufgeben. Das System merkt sich außerdem, was die Kunden üblicherweise kaufen. Wenn diese also zum Beispiel „Waschmittel hinzufügen“ sagen, weiß das Gerät, welches Produkt sie meinen.
Smart Speaker haben ein neues Nachfragebedürfnis geschaffen. Da Alexa und Google Assistant mittlerweile in einer ganzen Reihe anderer Geräte, wie Telefone oder Autos, eingebettet sind, können Konsumenten an immer mehr Orten verbal Produkte ordern. Der Markt für Smart Speaker ist mit rund 150 Millionen verkauften Geräten im Jahr 2019 regelrecht explodiert.[i] Amazon konnte 70 Prozent des US-Marktes gewinnen, Google Home kommt auf 24 Prozent.[ii] Bis Ende 2018 wurden über 100 Millionen Alexa-Geräte verkauft – Zahlen, die im Verlauf der Coronakrise weiter angestiegen sind. Die Alexa-Geräte sind nun in über 40 Ländern weltweit erhältlich, darunter auch in den meisten europäischen Staaten.
Aber was wäre denn noch komfortabler, als einfach laut auszusprechen, welche Produkte man haben möchte? Wenn man dabei sonst nichts mehr machen muss. Im Jahr 2015 startete Amazon einen weiteren Dienst namens Dash Replenishment. Dabei handelt es sich um die Weiterentwicklung einer Anwendung im Bereich des Internets der Dinge, die es Herstellern ermöglicht, ihre Geräte mit dieser Alexa-gestützten Funktion auszustatten und automatisch Ersatzteile zu bestellen. Brother, HP und Epson verfügen beispielsweise über Dash Replenishment-Drucker, die automatisch Tinte nachbestellen. Brita-Wasserfilter können mit der gleichen Funktionsweise Ersatzfilter nachbestellen und Waschmaschinen von Samsung und Whirlpool können Waschmittel bestellen, indem sie die Anzahl der abgeschlossenen Waschgänge verfolgen.
Das Warenlager neu denken
Unabhängig davon, ob die Bestellung per Mausklick, Sprachbefehl oder automatische Bestellung eines Geräts erfolgt, müssen die Artikel zu Hause, am Arbeitsplatz oder an anderen Lieferadressen ankommen. Diese Prozesse führen zu enormen Komplexitäten und hohen Kosten auf der „letzten Meile“. Einzelhändler überdenken daher ihr Liefernetzwerk und suchen nach Möglichkeiten, ihre Kosten zu senken und gleichzeitig Geschwindigkeit, Effizienz und Genauigkeit zu verbessern. Amazons Übernahme von Kiva-Robotik im Jahr 2012 veränderte das Lagerparadigma vom menschlichen Kommissionierer, der zum Inventar reist, hin zum robotisierten Inventar, das zum Kommissionierer reist. Amazon verfügt heute über mehr als 200.000 Kiva-Roboter, die in den Fulfillment-Zentren von Amazon in den USA arbeiten. Lebensmittelkonzerne wie Ocado, Walmart und Kroger haben ihre Lagerhäuser ebenfalls umgestaltet, um ein automatisches Lager- und Bereitstellungssystem (ASRS) im Würfelstil zu verwenden. Das System wird von leistungsstarken Algorithmen gesteuert, die Platzierungen und Positionierungen von Waren sowohl horizontal als auch vertikal kontrollieren. Ein Schwarm-Roboter rast über ein Gitter an der Oberseite des Würfels und kommissioniert dabei die Waren. Die kleinen Helfer können sich bei Bedarf selbst aufladen, sodass mehrere Aufträge rund um die Uhr gleichzeitig bearbeitet und kommissioniert werden können.
Modell eines ASRS. Bild: Autostore.
Die modularen ASRS-Einheiten sind enorm skalierbar und äußerst platzsparend. Sie können daher in riesigen Fulfillment-Zentren oder in kleinen Räumen in den Städten zum Einsatz kommen. ASRS-Anbieter wie Swisslog haben sogar eine Lösung gefunden, ihre ASRS-Technologie „Autostore“ in Einkaufszentren oder große Geschäfte zu integrieren. Die Technologie könnte die oft heruntergekommenen Hinterzimmer und Lagerbereiche in den Geschäften zu Logistikzentren umwandeln und somit für den Online-Handel nutzbar machen.
Roboterfirmen wie Fabric erschließen darüber hinaus weitere Einsatzfelder für die Roboter, wie Tiefgaragen. In Zukunft wird der Individualverkehr im Automobilsektor wahrscheinlich zurückgehen, ideal in Stadtzentren und Innenstädten gelegene Parkhäuser stünden somit zunehmend leer. Diese Räume können mit Hilfe der ASRS-Technologie in städtische Logistikzentren umfunktioniert werden, wodurch Same-Hour-Lieferungen für immer mehr ungeduldige Konsumenten verfügbar wird.
Die letzte Meile neu denken
Die Lieferung von Waren an die Haustür ist im besten Fall eine teure Angelegenheit. Sehr viel teurer wird es, wenn man innerhalb von 24 Stunden liefern muss, vor allem wenn Unternehmen wie Amazon den Druck hierfür weiter erhöhen, indem sie diesen Service kostenlos anbieten. Im Augenblick versuchen viele Unternehmen, Amazon eingeschlossen, die Kosten unter Kontrolle zu halten, indem sie nicht nur ihre Lager automatisieren, sondern auch die Gig Economy nutzen. Die Unternehmen vergeben dabei kleine Lieferaufträge kurzfristig an unabhängige Selbständige, Freiberufler oder geringfügig Beschäftigte. Auf diese Weise sparen sie Personalkosten, wie für Renten, Urlauben und Gesundheitsleistungen. Hierbei handelt es sich aber nur um eine vorübergehende Lösung und somit auch nur um kurzfristig bestehende Arbeitsplätze. Der langfristige Plan sieht vor, die letzte Meile so weit wie möglich zu automatisieren. Dabei soll eine Reihe verschiedener Lösungen wie Straßenroboter und Lieferdrohnen zum Einsatz kommen.
Die Lieferroboter von Starship Technologies sind seit einiger Zeit in mehreren britischen Städten sowie auf dem gesamten Universitätsgelände in den USA ein vertrauter Anblick. Die kleinen, selbstfahrenden, sechsrädrigen Roboter können Artikel, wie Lebensmittel und Fastfood, innerhalb eines Vier-Meilen-Radius zu den Kunden transportieren. Inzwischen sind sie in über 100 Städten und 20 Ländern in Betrieb. Supermärkte wie co op und Fast-Food-Lieferdienste wie JustEat haben diese Technologie schon früh genutzt. Es überrascht nicht, dass Amazon ebenfalls das Konzept der Straßenroboter übernommen hat und mit dem Amazon Scout eine fast identische Version entwickelte, die in Kalifornien, Florida und Tennessee über die Straßen rollt. [iii]
Lieferroboter von Starship Technologies und Amazon.
Diese Roboter reduzieren die Lieferkosten drastisch, weil sie sowohl elektrisch als auch fahrerlos arbeiten. Letzteres hat in diesen Pandemiezeiten an Bedeutung gewonnen. Die Menschen akzeptieren es in der Coronakrise viel mehr als früher, Güter von Robotern statt Menschen geliefert zu bekommen.
Allerdings lebt nicht jede Person vier Kilometer von einem Logistikzentrum oder einem Supermarkt entfernt. Eine weitere Herausforderung für die Logistik besteht also in der Automatisierung längerer Lieferfahren. Eine Problemlösung könnte das Konzept eines Mutterschiffs darstellen, bei dem große Lieferwagen (derzeit von Menschen gefahren, aber in nicht allzu ferner Zukunft autonom) die Lieferroboter zu Orten fahren, die von den Planungsalgorithmen als optimale Haltepunkte ermittelt wurden. Von dort könnten die kleinen Fahrzeuge zu den Häusern schwärmen und so systematisch alle Lieferregionen abdecken. Daimler pflegt hierfür seit 2016 eine Partnerschaft mit Starship Technologies und hat über 16 Millionen Euro in das Roboterunternehmen investiert. Gemeinsam verfolgen die Unternehmen das Ziel, ein Robovan-Konzept zur Marktreife zu bringen, wobei der Einsatz in Europa beginnen soll.
Ford arbeitet mit Agility Robots zusammen, um ein ähnliches System zu entwickeln. Im Fokus steht dabei der zweibeinige Roboter „Digit“, der die Waren bis zur Tür trägt. Der wesentliche Vorteil von Digit gegenüber den räderbetriebenen Straßenrobotern sind seine Beine, mit denen er Waren über Hindernisse und Treppen hinweg zu fast jedem Haushalt bringen kann.
Zweibeiner Digit von Agility Robotics in Aktion.
Selbst der Himmel rückt bei dem Wettbewerb um immer schnellere Warenlieferungen in den Fokus, denn Luftstraßen verlaufen fast geradlinig und relativ verkehrsarm zu den Zielorten. Amazon war das erste Unternehmen, das bereits 2013 bekanntgab, den Einsatz von Drohnen für die Lieferung von Waren zu planen. Seitdem arbeitet das Unternehmen intensiv an diesem Konzept. Auch andere Unternehmen sahen das Potenzial für eine drohnenbasierte Logistik, so zogen Unternehmen wie Google und DHL mit eigenen Lösungen nach. Das wesentliche Hemmnis für diese Innovationen waren bislang Regelungen zur Flugsicherheit, doch 2019 erhielt Google von der US-Flugsicherheitsbehörde Federal Aviation Administration (FAA) die Genehmigung für den Betrieb der firmeneigenen Flotte der „Wing“-Lieferdrohnen. Im August 2020 erhielt auch Amazon die FAA-Zulassung für die Prime-Air-Drohnen. Es ist daher wahrscheinlich, dass Drohnen ein Jahr später in den USA und bis 2022 in Europa Waren ausliefern werden. Auch hier hat die Coronakrise dazu beigetragen, die Meinung der Menschen über Drohnen zu ändern, da es notwendig ist, eine stärker auf den Heimgebrauch ausgerichtete Verbraucherbasis zu unterstützen und eine nicht-biologische Liefermethode anzubieten.
Den Supermarkt neu denken
Trotz all dieser E-Commerce-Innovationen rechnet niemand ernsthaft mit einem schnellen Ende des physischen Einkaufens. Neue Technologien verändern jedoch das Einkaufserlebnis innerhalb dieser Läden radikal. Es überrascht nicht, dass Amazon im Zentrum dieses Wandels steht und erneut versucht, die Paradigmen des Konsumierens zu verändern, indem der Onlinehändler Probleme und Unannehmlichkeiten löst, die viele Menschen bislang als unveränderbar hingenommen hatten. Der unangenehmste Teil des Einkaufens im Supermarkt ist vermutlich die Zeit an der Kasse. Waren auf das Förderband legen, scannen und wieder verpacken ist umständlich und bereitet keine Freude. In Stoßzeiten entwickelt sich diese Art des Einkaufens zu einer regelrechten Tortur. Die Menschen in der Schlange haben es eilig, stehen unruhig an der Kasse und würden sich dieses „Erlebnis“ am liebsten sparen. Und wenn das nicht länger ein Wunschtraum ist? Wenn die Menschen ihre Waren einfach aus dem Regal nehmen und damit aus dem Supermarkt gehen könnten? Diese Frage stellte sich Amazon und lieferte auch gleich die Antwort dazu: Amazon Go.
Die Einführung der Go-Geschäfte ist der Einführung des Amazon Echo im Hinblick auf einen zentralen Aspekt ähnlich: Die Menschen lernten eine neue Innovation kennen, die sie vorher weder vermisst noch nachgefragt hatten. Seit der Markteinführung dieser neuen Technologien möchten die meisten Menschen auf den damit verbundenen Komfortgewinn aber nicht mehr verzichten. Für die Go-Läden verwendet Amazon die sogenannte „Just Walk Out“-Technologie, die aus Computervision, Sensorik und Deep-Learning-Technologie besteht. Sobald die Kunden am Eingang dieses Supermarktes ankommen, werden sie von einem hochkomplexen System erfasst, das automatisch erkennt, wenn Produkte aus den Regalen genommen und zurückgelegt werden. Neben dem physischen Einkaufswagen fährt ein virtueller Einkaufswagen mit. Haben die Kunden ihren Einkauf beendet, gehen sie mit den Waren direkt aus dem Supermarkt, ohne sich an der Kasse abmühen zu müssen. Amazon verrechnet ihren den Einkauf automatisch auf dem Amazon-Konto. Das Konzept wurde zunächst mit Mitarbeitern in Seattle erprobt und dann 2019 in den gesamten USA eingeführt. Amazon plant die Eröffnung von 3.000 Go-Geschäften in den USA bis 2022 und hat bereits Standorte für Go-Geschäfte in Großbritannien und Deutschland festgelegt.
Mit dem technologischen Fortschritt wuchsen auch die Ambitionen von Amazon. Im Jahr 2020 startete der Konzern Go Grocery in Seattle einen knapp 1.000-Quadratmeter großen Supermarkt. Um Einkäufe größerer Mengen zu ermöglichen, gibt es in diesem Supermarkt die sogenannten „Dash Carts“. Dabei handelt es sich um smarte Einkaufswägen, in denen Alexa eingebettet ist und die mit Kameras, Sensoren und einer Waage ausgestattet sind, um automatisch alle in den Wagen gelegten Artikel aufzuzeichnen, eine Produktliste zu führen und das Amazon-Konto des Kunden zu belasten, wenn er den Supermarkt verlässt.
Einkaufswagen 2.0: Amazon Dash Cart
Wenn Kunden die Möglichkeit haben, einfacher und schneller einzukaufen, greifen sie gerne auf diese Angebote zu. Die überwiegende Mehrzahl genießt das lange Stehen in der Schlange und den Bezahlvorgang nicht. Fallen diese Schritte weg, ändert sich das Einkaufsparadigma. Amazon und seine Wettbewerber wissen das seit vielen Jahren. Die erfolgreiche Einführung dieser Technologie durch Amazon führte zu einer sofortigen Wettbewerbsreaktion anderer großer Lebensmittelkonzerne wie Walmart, Carrefour, Sainsburys und Tesco. Die Ketten entwickelten vergleichbare Lösungen, um die Warteschlange an der Kasse zu umgehen. Die meisten Unternehmen verfügen aber nicht über so umfassende Budgets für Forschung und Entwicklung wie Amazon – und diesen Vorteil nutzt der Onlinehändler selbstverständlich aus. So kündigte Amazon im Jahr 2020 an, dass die Go-Technologie nun gemietet werden kann, sodass andere große und kleine Einzelhändler auf die Technologie zugreifen können. Somit hat Amazon ein weiteres äußerst profitables Geschäftsmodell geschaffen.
Neben der Eliminierung der Kasse und des Kassierers finden Roboter vermehrt den Weg in die Einzelhandelsgeschäfte. Ein Bericht aus dem Jahr 2018 stellte fest, dass jährlich fast eine Billion Dollar verloren gingen, weil die Läden nicht immer genug Artikel in einigen Regalen vorrätig hatten. Dieses Problem versucht Walmart mit dem Einsatz des Regalrobotersystems Bossa Nova zu beheben, das den Warenbestand scannt und kontinuierlich prüft, ob die jeweiligen Artikel in ausreichender Menge am korrekten Ort im Regal geführt werden. Unstimmigkeiten erkennt und markiert Bossa Nova umgehend, sodass sich ein menschlicher Mitarbeiter umgehend um das Problem kümmern kann. Walmart hat derzeit über 1.000 dieser Roboter in seinen US-Läden im Einsatz und möchte sie auch in anderen Ländern nutzen. Der Konzern verwendet außerdem Reinigungsroboter, die verschüttete oder ausgelaufene Ware erkennen und aufräumen.
Roboter von Bossa Nova bei Walmart im Einsatz
Das Bezahlsystem neu denken
Die Umstellung von physischem Bargeld auf digitale und kontaktlose Zahlungsmittel ist seit einigen Jahren im Gang. Amazon hebt aber auch hier den Fortschritt auf eine höhere Ebene, in diesem Fall mithilfe von Amazon One. Das biometrische Handflächen-Scangerät erlaubt den Zugang zu den Go-Läden, indem Kunden mit der Hand über einen Scanner am Eingang fahren. Vor der Coronakrise war das eine utopische oder dystopische Vorstellung, nun ist die Sicherheit wichtiger als Bedenken gegenüber der Technologie. Schließlich erlaubt Amazon One das sichere Einkaufen vor Ort ohne Bargeld oder Nummernblöcke im Lesegerät an der Kasse berühren zu müssen – das überzeugt viele Kunden während der Pandemie. Biometrische Zahlungssysteme sind in Ländern wie China bereits in vielen Regionen und Städten etabliert. Systeme wie „Smile to Pay“ ermöglichen den Kauf und die Bezahlung von Waren durch Gesichtserkennung. Bald könnten auch im westlichen Kulturkreis Gesichter und Hände die Debitkarten ablösen.
Amazon One zur Bezahlung via Handflächen-Scan und der Gesichtsscanner „Smile to Pay“ von Alipay.
Die biometrische Technologie kann überall dort eingesetzt werden, wo Menschen Schlange stehen, um für Waren zu bezahlen, wie in Fast-Food-Restaurants, Kinos und Drive-Ins. Die entsprechenden Geräte machen das Anstehen und Suchen nach Kleingeld zu einem Relikt der Vergangenheit.
Die Einzelhändler erkannten schnell, dass diese Technologie mehr Möglichkeiten bietet, als nur die Kasse überflüssig zu machen. Kosten für Kassierer entfallen, somit erhöht sich die Rentabilität der Geschäfte und auch die Öffnungszeiten können bis zu den gesetzlichen Grenzen ausgeweitet werden. Marit van Egmond, Präsidentin des niederländischen Einzelhändlers Albert Heijn, erklärt dazu: „Dieses neue Konzept vereinfacht das Einkaufen enorm. Außerdem kann das autonome „Plug-and-Play“-Geschäft an Orten verwendet werden, an denen es Bedarf nach kleineren Geschäften gibt, die sich auf klassische Weise nicht rentabel betreiben lassen. Das gilt etwa für Bürogegenden, Campus oder im Bau befindliche Wohngebiete. Zudem können diese Läden permanent geöffnet bleiben. Das ist vor allem für Arbeiter in der Früh- und Nachtschicht sehr nützlich.“[iv]
Ein weniger bekannter Vorteil dieser neuen Supermärkte ist die Reduzierung von Ladendiebstählen. Das smarte Erfassungssystem lässt sich nicht durch versteckte Rasierklingen oder Gutscheinkarten in der Jackentasche überlisten, sondern erkennt diese Produkte sofort beim Gang aus dem Markt und stellt diese dem „Dieb“ in Rechnung. Und wer sich am Eingang nicht vom System erfassen lässt, bekommt erst gar keinen Zutritt in das Geschäft. Im US-amerikanischen und europäischen Einzelhandel lag der Umsatzverlust durch Ladendiebstähle im Jahr 2019 bei 60 Milliarden Dollar, das entspricht 1,4 Prozent des Umsatzes. Die Kosten der Technologie werden demnach sehr schnell wieder eingeholt.
Tabelle 2: Verluste verursacht durch Kriminalität im Einzelhandel in den USA und Europa im Jahr 2019. Quelle: Centre for Retail Research.[v]
Das gesamte Einkaufserlebnis neu denken
Wie die verschiedenen Technologien in Kombination den Einzelhandel verändern, zeigt das Beispiel China. Alibaba und JD.com, die beiden größten Einzelhändler des Landes, haben das Einkaufen revolutioniert, indem sie physisches und digitales Shopping verbanden und so ein vollkommen neues, personalisiertes Einkaufserlebnis schufen. Die Konzerne sprechen hierbei von „New Retail” oder „Boundaryless Retail“.
Alibabas Vision des „New Retail“ zeigt sich in den von Grund auf neu gestalteten Hema-Supermarktgeschäften, die ein Einkaufserlebnis mit Hilfe von Mobiltelefonen bieten. Kunden können detaillierte Produktinformationen durch Einscannen von QR-Codes einsehen und ihre Bestellungen direkt nach Hause liefern lassen. Die Konsumenten können auch Bekleidung und Make-up virtuell mit Augmented Reality (AR) testen, ohne dafür in Umkleidekabinen anstehen oder Muster suchen zu müssen. Eine nützliche Innovation während der Coronakrise, in der viele Umkleidekabinen nicht genutzt werden können und das Anprobieren von Kleidung verpönt ist. Anstatt nur Lebensmittel zu kaufen, die zu Hause gekocht werden sollen, kochen die Köche von Hema vor Ort die Einkäufe für die Kunden, damit diese sie an Ort und Stelle probieren können. Dadurch wird den Kunden ein taktiles, immersives und interaktives Einkaufserlebnis geboten. Der Supermarkt dient auch als Logistikzentrum und liefert die Lebensmittel innerhalb von 30 Minuten an die Kunden aus, wenn diese in einem Umkreis von drei Kilometern um einen Hema-Supermarkt wohnen. Das Konzept ist so erfolgreich, dass die Kunden sogar gezielt näher an einen Hema-Markt ziehen und Immobilien in der Nähe dieser Märkte enorme Preissteigerungen verzeichnen.
JD.com, Chinas größter Einzelhändler, verfügt mit „Boundaryless Retail“ eine ähnliche Lösung. Wie Alibaba stellt sich das Unternehmen ein Einzelhandelserlebnis ohne Barrieren vor, das sich auf Daten, Zusammenarbeit und Innovation stützt. JD.com hat sich alle oben genannten Technologien zu eigen gemacht und vollautomatische Logistikzentren gebaut, die über eine unterirdische Röhrenlogistik Läden und Logistik-Hubs in der Stadt beliefern, die dann Pakete mit Drohnen und Straßenrobotern an die Kunden liefern. Wie Amazon hat auch JD.com erkannt, dass sich mit der Öffnung seiner technologischen Fähigkeiten für andere Unternehmen viel Geld verdienen lässt. Chinesische Händler, Luxusbekleidungsfirmen und Hotelketten haben sich mit JD.com zusammengeschlossen, um ihren Kunden ein grenzenloses Einzelhandelserlebnis zu bieten.
Die Zukunft der Lieferkette und des Einzelhandels – ist PAL: persönlich, automatisiert und lokal.
Personalisiert, weil Unternehmen zunehmend Algorithmen verwenden, um unsere Bewegungen, Kaufentscheidungen und Sehgewohnheiten zu verfolgen und um individualisierte Artikel, Rabatte und Angebote anbieten zu können. KI-gestützte Tools wie AR werden Einzelhandelsindustrien wie den Kleidungsmarkt revolutionieren, indem sie die derzeit problematische Online-Kundenerfahrung lindern, die durch standardisierte Größen und umständliche Rückgaberichtlinien verursacht wird. Innovative Start-Ups wie E-Spoke schaffen bereits Lösungen, die eine Kombination aus digitalen Messsystemen und 3D-Avataren verwenden, um die exakte Körpergröße widerzuspiegeln und eine virtuelle Anprobe vor dem Kauf zu ermöglichen. In Kombination mit maßgeschneiderter Fertigung gewährleistet diese Technologie, dass die Kleidung perfekt sitzt. Das vermeidet Unsicherheiten beim Kauf, aber auch erhöhte Rückgabequoten und Abfallmengen.
Das Einkaufen wird durch die in diesem Beitrag besprochenen Tools automatisiert. Die Lösungen reichen von ASRS-Lagern, Lieferdrohnen und Straßenrobotern zur Abwicklung von Onlinebestellungen bis hin zu 24/7-“just walk out”-Läden, die es den Menschen ermöglichen, Waren nur mit der Hand oder dem Gesicht zu betreten und zu bezahlen.
Außerdem wird das Einkaufen lokaler, denn der Einzelhändler und seine Lieferkette werden sich um den Verbraucher drehen und zu ihm kommen und nicht umgekehrt. Wir bewegen uns zurück zu einer Welt der Ladenbesitzer und Geschäften vor Ort, die jedoch durch eine sehr leistungsfähige technologische Hardware unterstützt werden. Diese Innovationen ermöglichen den Einzelhändlern, sich auf das Angebot einzigartiger Produkte, Dienstleistungen und Erlebnisse zu konzentrieren, statt auf das Zählen der Bestände, das Auffüllen der Regale und das Einsammeln von Bargeld.
Zusammengefasst steht das physische Einkaufen nicht vor dem Niedergang, sondern vor einem Neuanfang, der das Einkaufen smarter, effizienter, rentabler – und vor allem angenehmer machen wird.
Im Namen von P3 Logistic Parks veröffentlichter Artikel des Zukunftsforschers Sean Culey
[i] Ilker Koksal; ‘The Sales Of Smart Speakers Skyrocketed’, Forbes, March 10 2019 https://www.forbes.com/sites/ilkerkoksal/2020/03/10/the-sales-of-smart-speakers-skyrocketed/
[ii] Laren Fiener; ‘Apple’s smart speaker is struggling against rivals from Amazon and Google’, CNBC, 05 Feb 2019
[iii] Scott Simmie; ‘Amazon’s ‘Scout’ delivery robot rolls out in two more US states’ DroneDJ, 21 July 2020 https://dronedj.com/2020/07/21/amazons-scout-delivery-robot-rolls-out-in-two-more-us-states/
[iv] Fiona Briggs; ‘Ahold Delhaize pilots digital AH to go for a customer grab-and-go experience in The Netherlands’; Retail Times. 25 September 2019 https://www.retailtimes.co.uk/ahold-delhaize-pilots-digital-ah-to-go-store-for-customer-grab-and-go-experience-in-the-netherlands/
[v] Centre for Retail Research 2019. ‘Crime Comparisons. Retail Crime in the U.S., UK and Europe 2019’, https://www.retailresearch.org/crime-comparisons.html