Trans.INFO: Herr Franke, das Bundesverfassungsgericht hat die deutsche Wirtschaft, aber auch politische Beobachter und Presse kalt erwischt: Damit, dass das höchste deutsche Gericht auf Basis einer spezifischen wissenschaftlichen Theorie ein gesellschaftsweit folgenreiches Urteil spricht, war nicht unbedingt zu erwarten. Das Urteil des BVG zur Klimapolitik der Bundesregierung führt ohne Zweifel zu einer Verschärfung der kurz- und mittelfristigen Klimaschutzmaßnahmen. Inwiefern trifft dies denn die Logistikunternehmen, die mit den bisherigen Zeitplanungen gerechnet haben?
Dirk Franke: Dies trifft die Logistikunternehmen enorm. Die Klimaneutralität soll nun bereits 2045 erreicht werden. Das Zwischenziel für 2030 wird von 55 auf 65 Prozent CO2-Minderung gegenüber 1990 erhöht, für 2040 dann sogar auf 88 Prozent.
Auch wenn der Löwenanteil der zusätzlichen Einsparungen auf Energiewirtschaft und produzierende Industrie entfällt, so sind die ohnehin schon ambitionierten Ziele für den Verkehr nun noch einmal erheblich verschärft worden. Zudem sehe ich eine hohe Gefahr, dass die nächste Bundesregierung dem anhaltenden Druck der Klima- und Umweltorganisationen nachgibt und spätestens im Rahmen der für 2024 geplanten Sektorfeinjustierung der 2030er-Jahre die Verkehrsziele noch einmal weiter verschärft. Insbesondere, da die Treibhausgas-Bilanz im Sektor Verkehr Ende 2019 fast auf dem gleichen Niveau wie 1990 lag. Die ersten Minderungen in 2020 sind größtenteils auf weniger PKW-Langstreckenfahrten während des Lockdowns zurückzuführen.
Mit weiteren Überraschungen dürfte zu rechnen sein …
Dirk Franke: Das fürchte ich auch. Wenig beachtet wurde bislang nämlich ein meines Erachtens weitreichender Punkt: Die Rolle des Klimaschutz-Expertenrats wurde im Zuge der jüngsten Gesetzesüberarbeitung erheblich gestärkt. Er wird vom Ratgeber zum regelmäßigen Kontrolleur der Klimaziele der einzelnen Sektoren. Bei dokumentierter Nichterreichung müssen die zuständigen Bundesministerien zukünftig kurzfristig nachsteuern. Der Rat muss dazu jedoch eine verlässliche Datengrundlage sicherstellen. Mit umfassenderen Berichtspflichten ist bereits in Kürze zu rechnen.
Ein weiteres folgenreiches Urteil hat ein niederländisches Gericht soeben gegen den Konzern Shell gefällt. Damit wird erstmals ein Unternehmen gesetzlich verpflichtet, seine CO2-Emissionen drastisch zu reduzieren, unabhängig von generellen politischen Entscheidungen. Besteht nicht die Gefahr, dass damit Gerichte zur permanenten Bedrohung für Unternehmen werden, die fossile Brennstoffe verwenden? Wer weiß denn, welche Branche, welches Großunternehmen es als nächstes treffen wird?
Dirk Franke: So ist es. Dieses Urteil hat zu Recht weltweit hohe Aufmerksamkeit erregt und war für die meisten überraschend – unter anderem auch deshalb, weil es Shell in die Verantwortung für seine Zulieferer nimmt. Auch wenn Shell umgehend in Berufung gegangen ist: Das Urteil hat eine große Signalwirkung und wird weitreichende Folgen für alle Branchen haben. Es scheint in einem zunehmend größer werdenden Teil der Richterschaft den ausgeprägten Willen zu geben, sich des Klimas anzunehmen. Ich erwarte daher, dass es in Zukunft mehr solcher Urteile geben wird und der Druck zur Abkehr von fossilen Brennstoffen auf Großunternehmen sich noch einmal deutlich verschärfen wird – durch die Justiz, aber darüber hinaus auch durch Aktionäre, Kunden und Politik. Logistikunternehmen sind gut beraten, ihre Anstrengungen zur CO2-Reduzierung nochmals zu intensivieren.
Welche ganz konkreten Herausforderungen bringen diese Urteile für die Logistikunternehmen und ihre Fuhrparks mit sich?
Dirk Franke: Die Logistikunternehmen müssen aufgrund der langen Abschreibungszeiten ihres Fuhrparks nun verstärkt bereits kurzfristig handeln und die Umstellung auf einen emissionsarmen Fuhrpark noch konsequenter angehen. Bei einer typischen Abschreibungsdauer von neun Jahren wirken heutige LKW-Neuanschaffungen bereits in die deutlich verschärften 2030er-Jahre (65 statt 55 Prozent Einsparung gegenüber 1990) hinein. Um darüber hinausgehende Konzepte zur Einsparung von Emissionen werden die Unternehmen nicht herumkommen. So ist beispielsweise auch die umfassende Prüfung von intermodalen Transport-Alternativen gemeinsam mit den Kunden aufgrund der enormen Einsparmöglichkeiten ein Gebot der Stunde.
Die Auswirkungen der Urteile betreffen allerdings natürlich die gesamte Wertschöpfungskette, von der die Logistik ein wichtiger Teil, aber eben nicht das Ganze ist. Wie schätzen Sie die Folgen für die produzierende Industrie ein?
Dirk Franke: Die Auswirkungen auf die produzierende Industrie sind gravierend. Der weitaus größte Anteil der gesetzlich vorgegebenen zusätzlichen Einsparungen bis 2030 entfällt neben der Energiewirtschaft auf die produzierende Industrie. Der Handlungsdruck wird insbesondere auf energieintensive Branchen wie z.B. die Stahlindustrie noch einmal und bereits kurzfristig zunehmen, die Automobilindustrie wird zum noch schnelleren Ausstieg aus dem Verbrenner-Antrieb gedrängt werden.
Auch der Handel nimmt in der Wertschöpfungskette einen zentralen Platz ein. Womit muss er infolge des verschärften Tempos der Klimapolitik in den nächsten Jahren rechnen?
Dirk Franke: Der Handel steht im zentralen Fokus von Politik, Lieferanten und Verbrauchern. Von ihm als emissionsintensiver Branche wird erwartet werden, auch weiterhin eine gestaltende Vorreiterrolle zu übernehmen.
Wie könnte die zum Beispiel aussehen?
Dirk Franke: Führende Einzelhändler hatten sich bereits anlässlich des Pariser Klimaabkommens zu den Klimazielen bekannt. Seitdem wurde viel erreicht, die Treibhausgas-Bilanz des Handels wurde gegenüber 1990 um 50% verbessert. Den Löwenanteil haben dabei jedoch große Filialisten erbracht. Nun gilt es, auch die vielen kleineren und mittelgroßen Unternehmen zu motivieren und in die Lage zu versetzen, Emissions-Effizienzmaßnahmen zu ergreifen. Die 2018 gestartete und zwischenzeitlich bis 2024 verlängerte Klimaschutz-Offensive des Handels soll durch ein breites Informationsangebot dazu beitragen.
Welche grundsätzlichen wirtschaftlich vertretbaren Wege sehen Sie, mit denen die Unternehmen der verschiedenen Branchen die verschärften Klimaziele erreichen können?
Dirk Franke: Bei Investitionen, Produktionsplanung und Prozessdesign wird es Standard werden, Energieeffizienz, Kreislaufwirtschaft, Prozesseffizienz und Nachhaltigkeit, vor allem in Bezug auf Treibhausgas-Emissionen, von Anfang an und durchgehend zu berücksichtigen.
Aufgrund der Vernetzung moderner Supply Chains können die Klimaziele nur in Zusammenarbeit aller beteiligten Stakeholder umgesetzt werden. Wie lässt sich dies organisieren und nachhaltig verankern?
Dirk Franke: Völlig richtig, moderne Supply Chains erfordern immer schon eine intensive, eng ineinandergreifende, partnerschaftliche Zusammenarbeit. Bei der Umsetzung der Klimaziele gilt es, diese nochmals zu intensivieren und durch unternehmensübergreifendes Handeln die damit verbundenen, häufig ganz erheblichen, Einsparpotenziale zu erschließen. Nachhaltig organisieren lässt sich dies aufgrund der immensen Datenmenge nur durch datengetriebene, kollaborative Emissions-Plattformen.
Die Technologie, die Ihr Unternehmen entwickelt und betreibt, versteht sich ja ebenfalls als Hilfsmittel zur Einhaltung der Klimaziele. Wie lässt sich die BigMile-Plattform in diesem Zusammenhang nutzbringend einsetzen?
Dirk Franke: Die BigMile-Plattform ermöglicht es den beteiligten Unternehmen, also Verladern und Transportdienstleistern, relevante Emissions-Daten untereinander auszutauschen. Die Daten werden an der Quelle einmalig erfasst und mit den an den jeweiligen Prozessen Beteiligten geteilt. Somit entfällt der heute häufig praktikzierte Aufwand der Mehrfacherfassung, eine standardkonforme Vergleichbarkeit wird durch BigMile gewährleistet und es lassen sich unternehmensübergreifende Einsparpotenziale erschließen. Selbstverständlich werden dabei die höchsten Standards für eine durchgängige Datensicherheit gewährleistet.
Die Umwelt- und Klimapolitik ist permanent in Veränderung begriffen und inzwischen entscheiden Gerichte individuell über Klimamaßnahmen einzelner Konzerne. Wie können die Unternehmen sich dafür rüsten, mit ständigen Nachbesserungen und Neuausrichtungen fertig zu werden? Und sehen Sie Möglichkeiten für die Logistikindustrie, ihren Einfluss auf politische und juristische Entscheidungen zu vergrößern, um nicht immer wieder aufs Neue vor vollendete Tatsachen gestellt zu werden?
Dirk Franke: Grundsätzlich muss folgendes gelten: Der Staat muss den ordnungspolitischen Rahmen vorgeben und dafür sorgen, dass dieser befolgt wird. Die einzelnen Unternehmen sollten jedoch innerhalb dieses Rahmens frei wirtschaften können.
Dieser Grundsatz wird zunehmend in Frage gestellt, die Verunsicherung bei den Unternehmen gerade auch der Logistikindustrie ist daher verständlicherweise groß.
Die Justiz wird überraschende und weitreichende Entscheidungen dann wieder zurückfahren, wenn der Staat seiner ordnungspolitischen Aufgabe auch mit Blick auf die Folgegenerationen gerecht wird und die Unternehmen diesen Rahmen aktiv und unternehmensübergreifend ausfüllen.
Dies beginnt damit, dass die Unternehmen über ihre Verbände gemeinsam mit der Politik den sinnvollen Rahmen gestalten. Bei der Umsetzung ist es dann wichtig, ein verlässliches, standardkonformes Emissions-Berichtssystem zu etablieren. Nur wer seine aktuellen Emissionen bis in alle Details kennt, kann operativ an der Reduzierung arbeiten. Dabei unterstützen spezialisierte Plattformen wie BigMile, die Hauptarbeit findet aber in den Köpfen des Unternehmensmanagements statt.
Herr Franke, wir bedanken uns für dieses Gespräch.
Zu BigMile
Die BigMile Germany GmbH ist die deutsche Niederlassung der niederländischen Muttergesellschaft BigMile B.V. Das Unternehmen vertreibt die BigMile-SaaS-Softwarelösung zur Berechnung, Analyse und Optimierung des Supply Chain CO2-Fußabdrucks in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Mit Hilfe von BigMile erfüllen Verlader und Transportdienstleister automatisch die europäischen Datenerhebungs- und Berichtsstandards für Emissionen aller Modalitäten in der Logistikindustrie. Gleichzeitig erhalten die BigMile-Nutzer leistungsfähige Analyse-Tools zur operativen Optimierung der CO2-Emissionen und der damit verbundenen Kosten. Hauptsitz des Unternehmens ist Karlsruhe. Geschäftsführer der BigMile Germany GmbH ist Dirk Franke.