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Interview: “Wer die Logistikketten der Welt steuert, der steuert die Wirtschaft der Welt.”

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Die EU-Kommission schätzt den Investitionsrückstand der EU gegenüber den USA und China auf rund 190 Milliarden Euro pro Jahr. Unter diesen Voraussetzungen können sich Geschäftsmodelle mit einem monopolistischen Anspruch aus Europa heraus gegenüber den großen Platzhirschen aus Übersee kaum behaupten, sagt Prof. Dr. Dr. h. c. Michael ten Hompel, geschäftsführender Institutsleiter am Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik IML. Im Interview spricht er darüber, warum wir jetzt in Europa einen Gegenentwurf zum Silicon Valley für den B2B-Bereich brauchen, wie innovativ Logistik ist und wie sich Plattformgeschäfte in den nächsten Jahren entwickeln werden.

Natalia Jakubowska, Trans.INFO:Mit dem Forschungsprojekt Silicon Economy will das Fraunhofer IML als Gegenentwurf zum Silicon Valley einer dezentralen und offenen Plattformökonomie in Deutschland und Europa zum Durchbruch verhelfen. Wie soll das funktionieren?

Prof. Dr. Dr. h. c. Michael ten Hompel, Inhaber des Lehrstuhls für Förder- und Lagerwesen an der Technischen Universität Dortmund und geschäftsführender Institutsleiter am Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik IML: Eine offene und föderale Plattformökonomie erfordert eine umfangreiche Kooperation von Logistik- und IT-Unternehmen und eine gemeinsame Entwicklung von offenen Standards auf Basis von Open-Source-Software. Um diese gemeinsame Entwicklung zu motivieren und zu etablieren stellen das Fraunhofer IML und seine Projektpartner alle Ergebnisse des Projektes Silicon Economy als Open Source zur Verfügung. Wir entwickeln dafür einerseits eine Silicon-Economy-Infrastruktur und die dafür nötigen Basis-Komponenten, zum anderen bauen wir eine Open-Source-Plattform und eine Entwickler- und Anwender-Community auf. Konkret entsteht eine Infrastruktur mit minimaler Eintrittsschwelle für Unternehmen jeder Größe, ebenso wie für eine internationale Gemeinschaft von Entwicklern. Im Kern steht eine Bibliothek von Open-Source-Komponenten, die offene Standards für Daten, Schnittstellen und Prozesse nicht nur beschreiben, sondern anwendbar machen.

Warum haben sich Plattformen in Europa nicht so gut durchgesetzt wie in den USA und China?

Es fehlt an Geld und Förderung. Die EU-Kommission schätzt den Investitionsrückstand der EU gegenüber den USA und China auf rund 190 Milliarden Euro pro Jahr. Unter diesen Voraussetzungen können sich Geschäftsmodelle mit einem monopolistischen Anspruch aus Europa heraus gegenüber den großen Platzhirschen aus Übersee kaum behaupten. Daher brauchen wir jetzt einen Gegenentwurf für den B2B-Bereich in Europa: eine föderale, dezentrale und offene Plattformökonomie – eben eine Silicon Economy – nicht nur für die Logistik.

Alibaba, Google, Amazon sind Paradebeispiele für Plattformen. Was macht diese so attraktiv?

Die Geschäftsmodelle dieser Plattformen basieren darauf, dass sie ein Geschäft und manchmal sogar eine ganze Branche virtualisieren und in einer Plattform subsummieren – und damit das Leben des Endkunden einfacher gestalten. Der weltweit größte Vermieter von Zimmern, Airbnb, verfügt über keine eigenen Hotels, das größte Taxi-Unternehmen der Welt, Uber, über keine eigenen Fahrzeuge. Diese Liste der B2C-Plattformen ist lang und sie sind so attraktiv, weil sie einfach zu bedienen sind und alle nötigen Services aus einer Hand anbieten. Die Nutzer müssen sich keine Gedanken um die Organisation machen, sondern können sich auf ihr Anliegen konzentrieren. Allerdings trennen die monolithischen Plattformen die klassischen Anbieter von ihren Kunden und schalten sich dazwischen. Eben das passiert nun auch im B2B-Bereich.

Wie kann man also die Potenziale von B2C-Plattformen auf das B2B-Geschäft übertragen?

Man kann aus dem Erfolg der amerikanischen und chinesischen B2C-Plattformen sicher einiges lernen, doch die europäische Herangehensweise für eine offene Plattformökonomie im B2B-Geschäft ist eine andere. Zudem sind die Unicorn-Geschäftsmodelle des Silicon Valley für die komplexe B2B-Struktur der Logistik nur begrenzt tauglich. Es ist einem einzelnen Logistikunternehmen häufig gar nicht möglich, für die zweifellos kommende Plattformökonomie schnell und agil genug Lösungen zu entwickeln. Genau das schaffen wir mit der Silicon Economy – dezentral, föderal und gemeinsam. Man könnte vereinfacht sagen: Silicon Valley war gestern, Silicon Economy ist morgen. Silicon Valley ist B2C, mit relativ einfachen Geschäftsmodellen, Silicon Economy ist B2B mit KI-gesteuerten Prozessen.

Die Plattformökonomie wirkt sich sehr auf die Geschäftsmodelle aus. Welche konkreten Konsequenzen wird das für mittelständische Unternehmen haben?

Legitimes Ziel oligopoler Plattformen ist es, die Schnittstellen zum Kunden zu besetzen und die Datenströme und dahinterliegende Geschäftsprozesse dauerhaft auf ihre Plattformen zu lenken. Hierunter fallen auch logistische Dienstleistungen, wenn sie ausreichenden Gewinn versprechen. Wie gesagt, sind Plattformen im Endkundengeschäft erfolgreich, wenn sie einfach zu bedienen sind und ein direkter Mehrwert für den Nutzer erkennbar ist. Im B2B-Geschäft der Logistik ist das nicht anders. Die Schwelle für Unternehmen, an der Silicon Economy teilzuhaben, muss so niedrig wie möglich und der Nutzen unmittelbar erkennbar sein. Daher setzen wir auf Open Source. Im Endeffekt kann sich jeder Komponenten herunterladen und sein eigenes Geschäftsmodell darauf aufsetzen – von der einfachen Fahrer-App bis zur Blockchain-basierten Abrechnung. Diese Möglichkeit ist einzigartig und wird Standards setzen.
Eines ist mir an dieser Stelle wichtig festzuhalten: In unserem Projekt Silicon Economy geht es nicht etwa darum, Unternehmen zu konkurrenzieren oder den Logistikdienstleistern ihr Geschäft zu erklären. Es geht darum, gemeinsame Grundlagen zu schaffen und anwendbar zu gestalten, um neue Geschäftsmodelle zu ermöglichen.

Diskussionen über die Plattformökonomie werden häufig mit Technologien wie KI, maschinelles Lernen, Blockchain, Big Data in Verbindung gebracht. Ist die Logistik innovativ genug?

Ein klares Ja! Wie keine andere Branche ist die Logistik im Detail hochgradig standardisiert und für den übergreifenden Einsatz von Plattformen und Verfahren Künstlicher Intelligenz prädestiniert. Darum wird die Logistik auch die erste Branche sein, in der sich KI-Verfahren massenhaft durchsetzen werden. Damit ist die Logistik eine Schlüsselbranche der Digitalisierung.

Der Erfolg von Plattform-Geschäftsmodellen basiert auf Daten. Wie steht es aber um die Datensicherheit von Plattformen?

Genau an der Stelle setzen wir mit der Silicon Economy an. Ein wesentlicher Aspekt ist, dass wir die Datensouveränität sicherstellen und den eigentlichen Datenaustausch absichern. Um die Nutzung der Daten handeln zu können, müssen wir die Nutzung mit den Daten selbst verbinden. Diese Seite der Silicon Economy ist verbunden mit den International Data Spaces und GAIA-X. In hochverteilten und föderalen Ökosystemen wie der Silicon Economy brauchen wir Datenräume, in denen Daten sicher und souverän getauscht werden können. Die International Data Spaces werden unserem Bedürfnis nach Datenschutz und Datensouveränität, so wie wir es in Deutschland und Europa verstehen, gerecht. Das Ziel ist, dass wir jedem Unternehmen, ob groß, mittel oder klein, die Sicherheit geben, dass es die Souveränität und die Herrschaft über seine Daten behält und nicht befürchten muss, dass es sein Businessmodell aufgeben oder seine Daten verschenken muss und von Plattformen oder „Data Lakes” unterwandert wird.

Die EU fordert seit einiger Zeit eine stärkere Regulierung der digitalen Wirtschaft. Ist das Ihrer Meinung nach notwendig? Kann man regulieren, ohne gleichzeitig Hindernisse zu schaffen?

Ein direktes Eingreifen in den Markt verbietet sich, sofern nicht geltende Gesetzgebung, zum Beispiel im Kartell- oder Steuerrecht, tangiert wird. Wenn die Regulierung jedoch dazu dient, dass die digitale Wirtschaft unseren gesellschaftlichen Normen und Zielen folgt, halte ich flankierende Maßnahmen für richtig. Die Digitalisierung wird unsere Gesellschaft verändern und wir sollten diesen Prozess aktiv gestalten. Umso wichtiger wird es sein, dass europäische Unternehmen eine wesentliche Rolle in einer industriellen Plattformökonomie mit ihren verteilten Künstlichen Intelligenzen einnehmen – dann lassen sich unsere Normen bedeutend einfacher durchsetzen. Eines ist jedoch klar: Die Welt wird sich mit und ohne uns auf den Kopf stellen – ganz einfach weil sie es kann.

Wie schätzen Sie die Entwicklung von Plattformgeschäften in Europa für die nächsten Jahre ein? Welche Zukunftsaussichten gibt es für Deutschland?

Im Privatkundenbereich (B2C) sind die Würfel gefallen. Plattformen wie Amazon und Alibaba dominieren sowohl die Geschäftsmodelle als auch die damit zusammenhängenden Prozesse. Im Bereich der B2B-Plattformen wird gerade erst entschieden, wer die Nase künftig vorne haben wird. Gewinnen werden die Plattformen und KI-Algorithmen, welche die Logistik innovativ und ganzheitlich durchdringen werden. Wenn wir diesen Markt nicht auch noch verlieren wollen, müssen wir jetzt das Bewusstsein in Politik und Wirtschaft schärfen, dass deutsche und europäische Unternehmen noch die Chance haben, die Silicon Economy wesentlich zu gestalten. Ich habe manchmal den Eindruck, das viele die Tragweite der Thematik nicht erfassen. Lassen Sie es mich so sagen: Wer die Logistikketten der Welt steuert, der steuert die Wirtschaft der Welt.

Ein turbulentes Jahr 2020 liegt hinter uns, wie werden Sie es in Erinnerung behalten? Gibt es etwas, was sie besonders begeistert hat?

Bei all den negativen Nachrichten und Einschränkungen hat mich besonders begeistert, dass die Logistik einmal mehr eine wesentliche und positive Rolle gespielt hat und weiterhin spielen wird, wenn es zum Beispiel um die Aufrechterhaltung der Versorgung oder um die schnellstmögliche Verteilung von Impfstoffen geht. Damit unterstreicht sie ihren Anspruch als ein wesentlicher Motor der Weltwirtschaft.
Für mich persönlich ist es ein ganz besonderer Moment zu sehen, wie wir die gemeinsame Vision der Silicon Economy aus der Mitte Europa heraus Wirklichkeit werden lassen. Es ist faszinierend, mit welcher Begeisterung über hundert Kolleginnen und Kollegen im Institut an dieser neuen Welt arbeiten. Und mit der Förderung durch das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur und das NRW Wirtschaftsministerium haben wir endlich auch einmal die Chance, ganz vorne mitzuspielen.

Welche Projekte stehen bei Ihnen in diesem Jahr auf der Agenda?

Wir sind mit zahlreichen Entwicklungsprojekten in die Silicon Economy gestartet und haben bereits 2020 erste Ergebnisse wie das erste „Blockchain Device” und den LoadRunner®-Schwarm präsentiert. Auch 2021 werden wir wieder viele vorzeigbare Entwicklungen zeigen. Denn die Silicon Economy wird agil entwickelt. Das heißt, wir haben jeweils kleine Gruppen von Experten, die sich um ganz spezielle Themen kümmern und diese dann in Form von Soft- und Hardware umsetzen. Die Entwicklung erfolgt in Sprints mit klar umrissenen und in kurzer Zeit erreichbaren Zielen. Wir haben uns vorgenommen, alle sechs bis acht Wochen eine Innovation auf den Weg zu bringen und einige davon werden – wie bereits LoadRunner® und Blockchain Device – die ersten ihrer Art sein.

Foto: Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik IML

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