Foto: Hellmann Worldwide Logistics

Interview mit Stefan Borggreve: Es reicht nicht, wenn nur einzelne Bausteine innerhalb des Systems digitalisiert werden

Digitalisierung muss nicht immer disruptiv sein, sagt Stefan Borggreve. In unserem Interview erklärt er, worauf es beim digitalen Wandel wirklich ankommt und vor welchen Herausforderungen traditionelle Organisationsstrukturen stehen.

Lesezeit 11 Min.

Natalia Jakubowska, Trans.iNFO: Digitalisierung ist ein Thema, das die Branche seit vielen Jahren begleitet. Wenn Sie Ihre Einschätzung abgeben könnten – wo stehen deutsche Unternehmen heute?

Stefan Borggreve, Chief Digital Officer, Hellmann Worldwide Logistics: Aus meiner Sicht sind wir mitten in der Digitalisierung, denn sie ist ein Prozess, der nie ganz abgeschlossen sein wird. Es wird kontinuierlich immer weiter digitalisiert. Aber grundsätzlich ist innerhalb der Logistikbranche noch wahnsinnig viel Potenzial. Und besonders deutsche Unternehmen haben da noch eine Reise vor sich.

Vielen Studien zufolge geht die Digitalisierung nur schleppend voran. Fehlt es an einer ganzheitlichen Digitalisierungsstrategie?

Man muss sich immer die Komplexität der Branche vor Augen führen. Es interagieren hier extrem viele Teilnehmer miteinander. So kommt es vor, dass an einem Transport über 20 Beteiligte involviert sind. Deshalb ist es notwendig, das gesamte Ökosystem zu digitalisieren. Es reicht nicht, wenn nur einzelne Bausteine innerhalb des Systems digitalisiert werden.

Was konkret bedeutet aber der digitale Wandel für ein Unternehmen? Muss die Digitalisierung tatsächlich immer per se disruptiv sein, oder kann man auch mit einem linearen Prozess erfolgreich sein?

Für mich ist Digitalisierung vor allem ein Mindset, das man in die Unternehmen bringen muss. Es steckt sehr viel menschliche Kreativität dahinter, denn „Digital“ heißt nicht nur, dass man Technologien beherrscht, sondern vor allem, dass man gemeinsam bereichsübergreifend an Zielen arbeitet und dabei die Prozesse digital neu denkt. Das muss nicht immer disruptiv sein.
Grundsätzlich hat die Digitalisierung unterschiedliche Ebenen: Zum einen geht es darum, das Kerngeschäft zu stärken und zusätzliche Dienstleistungen auf den Markt zu bringen. So kann man durch die Digitalisierung von Prozessen die Effizienz und Servicequalität optimieren und gleichzeitig Wachstum generieren. Auf der anderen Seite passiert gerade so viel da draußen, dass man auch über gänzlich neue Geschäftsmodelle nachdenken muss, um in die disruptive und explorative Dimension zu gelangen. COVID hat die Branche grundlegend verändert, aber auch das Thema Nachhaltigkeit wird ganze Lieferketten neu gestalten. Deshalb ist es so wichtig, dass man sich schon jetzt überlegt, wie die Logistik von morgen aussehen wird.

Sie sagen also, dass Digitalisierung vor allem eine Frage des Mindsets ist. Dabei bremst aber gerade fehlendes IT-Knowhow den Digitalisierungsprozess aus.

Ich glaube, es kommt auf die Kombination an. Natürlich sind verschiedenste Technologien wie IoT, AI, Robotics und die vielfältigen Cloud-Möglichkeiten essentiell, um digitale Lösungen zu entwickeln. Es ist natürlich wichtig, dass man diese auch beherrscht. Es geht beim digitalen Mindset darüber hinaus vor allem darum, die Potentiale zu identifizieren, welche die verschiedenen Technologien im Zusammenspiel bieten und diese dann konkret in Geschäftswert zu übersetzen. Letztendlich geht es um digitales Unternehmertum.

Besonders für kleine Unternehmen sind diese neuen Technologien oft eine große Herausforderung. Könnte eine gute IT-Grundausbildung im Lehrplan helfen?

Grundsätzlich ja. Ob für kleine, mittlere und große Unternehmen, oder auch neue Generationen – digitale Fähigkeiten sind ein Grundbaustein, der für die Wettbewerbs- und Zukunftsfähigkeit der gesamten Wirtschaft enorm wichtig ist. Deshalb sollte das Thema auch Teil des Lehrplans in den Schulen und in der Ausbildung sein. Prinzipiell geht es dabei immer darum, zu überlegen, wo die Zukunft hin geht, wie man sie aktiv mitgestalten kann und wie man in diesem Umfeld als Unternehmen relevant und erfolgreich bleiben kann. Dieser Ansatz spiegelt sich aktuell nicht immer in den Lehrplänen wider. Heute geht es an vielen Schulen eher darum, Dinge anzuwenden, anstatt zu überlegen, wie man als Team etwas Neues, Zukunftsweisendes schaffen kann. Dafür braucht man natürlich Technologie-Expertise ebenso wie die Fähigkeiten, in solchen Modellen zu denken. Da müssen die Schulsysteme noch mal angepasst werden, denn die heutige Ausbildung passt nicht zu der Welt, die wir in der Zukunft haben werden und zum Teil heute schon vorfinden.

Sollte sich Deutschland mehr für IT-Arbeitskräfte aus Drittländern, zum Beispiel Indien, öffnen? Würde das kurzfristig Abhilfe schaffen?

Grundsätzlich sollte man sich immer für Experten öffnen. Es macht keinen Unterschied, ob sie aus Deutschland, Indien oder aus einem anderen Land kommen – das gilt ganz besonders in Zeiten des Fachkräftemangels. Entscheidend ist, dass Firmen die richtigen Mitarbeiter*innen finden, um die Digitalisierung voranzutreiben und damit letztendlich zukunftsfähig zu bleiben.

Start-ups mischen seit einiger Zeit die Transport-und Logistikbranche auf. Arbeitet Hellmann mit Start-ups zusammen?

Ja, Start-ups sind für uns wichtige Partner. Denn ich glaube, dass die Schnelligkeit und Entwicklungspower, die etablierte Unternehmen immer wieder in der Zusammenarbeit mit Start-ups bekommen, entscheidend sind, um das enorme Innovationstempo mitgehen zu können. Früher hat man sehr linear gedacht und versucht, alles alleine innerhalb der Unternehmung umzusetzen. Jetzt entstehen aber an jeder Stelle der Wertschöpfungskette neue Lösungen – oft auch getrieben von Start-ups.

Es macht deshalb viel Sinn, mit Start-ups in den Austausch zu gehen und ihre innovativen Ansätze im Unternehmen zu integrieren, oder auch gemeinsam an Lösungen für die Zukunft zu arbeiten.
Deshalb kooperiert Hellmann über fast alle Bereich hinweg mit Start-ups. Beispielsweise haben wir gerade eine Zusammenarbeit mit FlowFox bei Container-Importen gestartet. Und im Landverkehr setzten wir Pilotprojekte im Bereich der Nachhaltigkeitsmessungen mit Shipzero um.

Hellmann wurde 1871 gegründet. Wie gelingt eigentlich der Spagat zwischen Tradition und digitaler Transformation?

Die Hellmann-Kultur ist ein sehr guter Nährboden für die Digitalisierung. Warum sage ich das? Weil wir eine kollaborative Kultur haben und es ist seit jeher unser Anspruch ist, innovativ und übergreifend – und nicht in isolierten Inseln und Bereichen – zu denken. Das sind Fähigkeiten, die man heute mehr denn je braucht.
Für viele Traditionsunternehmen besteht die Herausforderung sicherlich darin, gemeinschaftliche Ziele zu definieren. Denn in traditionellen Organisationsstrukturen wird oftmals noch in einzelnen Bereichen gedacht.

Sie haben noch vor der Pandemie auf das Thema Visibility gesetzt. Haben Sie das Gefühl, dass dieses Thema immer noch ein bisschen von der Transportbranche unterschätzt wird?

Die Dynamik hat sich in den letzten drei Jahren sehr geändert. Noch vor der Pandemie haben die Lieferketten gut funktioniert und man kannte Herausforderungen wie den Ukraine-Krieg, die Suezkanal-Blockade oder die Corona- Pandemie nicht in diesem Ausmaß. Angesichts der Entwicklungen der letzten Jahre, die geprägt waren durch Unterbrechungen der Lieferketten, hat das Thema Visibility ganz enorm an Bedeutung gewonnen. Wenn man weiß, wo sich die Güter zu einem bestimmten Zeitpunkt befinden, kann man die Produktion oder Distribution daran anpassen und die richtigen Maßnahmen ergreifen, um Prozesse aufrechtzuerhalten.

Was war bei Ihnen die größte Herausforderung bei der Umstellung von Abläufen auf Echtzeitdaten?

Ganz klar – die Erhebung der Daten. Die Tatsache, dass so viele unterschiedliche Beteiligte entlang der gesamten Transportkette involviert sind, macht die Erhebung von verlässlichen und konsistenten Daten nicht einfacher. Mit unseren Smart Visilbity Tools haben wir hier inhouse eine verlässliche Lösung geschaffen, indem wir Sendungen mit einem Tracker versehen, der uns ganz unterschiedliche Daten entlang der gesamten Transportkette liefert – über alle Transportmodi hinweg. Das macht vieles einfacher.
Die zweite Herausforderung ist natürlich, dass man Ereignisse wie zum Beispiel die Blockade des Suezkanals nicht vorhersehen kann. Hier gilt es, die Prognose immer weiter zu optimieren und potentielle Disruptionen in unseren Prozessen von vornherein mitzudenken.

Sie haben anfangs gesagt, dass es nicht gerade von Vorteil ist, in Inseln zu denken und zu handeln. Sollte es eine gemeinsame Infrastruktur für Datenaustausch geben?

Ein ganz klares ja. Optimierungsmöglichkeiten sind immer begrenzt, wenn man in den eigenen vier Wänden denkt. Data Sharing bietet die Möglichkeit, ganz andere Lösungen zu schaffen. Deshalb wäre eine Gesamtlösung, die es allen ermöglicht, Daten zu teilen, in jedem Fall besser, als ein Umfeld in dem jedes einzelne Unternehmen für sich agiert. Das Thema wird künftig sicherlich an Priorität gewinnen, auch aufgrund verschiedener Nachhaltigkeitsaspekte.

Wie könnte so ein ganzheitliches Format für Datenaustausch aussehen?

Ich glaube, es wird nicht ein einziges Format gegeben, sondern verschiedene Ökosysteme für die einzelnen Teilbereiche – sozusagen ein Netzwerk aus verschiedenen Lösungen, die miteinander kommunizieren. Hier gibt es schon erste Bestrebungen, wenn es zum Beispiel um den Carbon Footprint geht. Die Frage, wie man Daten anonym und im gleichen Format austauschen kann, bleibt aber noch offen. Viele von diesen Lösungen werden auch durch die Blockchain unterstützt werden, so dass man die Echtheit der Daten garantieren kann.

Das alles, wovon wir hier sprechen, setzt Arbeit mit sehr großen Datenmengen voraus. Wie geht man mit einer solchen Fülle an Daten effektiv und sicher um? Ist das überhaupt möglich oder ist das eine utopische Vorstellung?

Die Datenerhebung und – Bearbeitung funktioniert immer besser, da sich die Technologie stetig weiterentwickelt. Auch die Massenverarbeitung ist mit der Zeit deutlich einfacher geworden. Aber natürlich ist Sicherheit weiterhin ein Riesenthema und es steht außer Frage, dass man einen sicheren Austausch gewährleisten muss. Denn es wird kein Vertrauen in Daten geben, wenn man nicht gewährleisten kann, dass sie zu 100 Prozent gesichert sind. Aber auch hier gibt es keine Universallösung.

Und ist Ihrer Meinung nach der digitale Bereich auf nationaler oder auch europäischer Ebene überreguliert? Sollten Unternehmen mehr Eigenverantwortung und Handlungsspielraum bekommen? Ich stelle Ihnen diese Frage, weil in letzter Zeit viel darüber diskutiert wird, ob die Nutzung von Chat GPT rechtlich reguliert werden sollte.

Aus meiner Sicht haben Unternehmen insgesamt genug Freiheit, auch wenn es sicherlich Länder gibt, in denen die regulatorischen Vorgaben weniger strikt sind. Gleichzeitig gibt es zweifelsohne Bereiche, die überreguliert sind.

Zu Chat GPT gibt es viele Meinungen, insbesondere zu der Frage, ob der Zeitpunkt richtig war, die Anwendung jetzt rauszubringen. Insgesamt bin ich der Meinung, dass uns die Weiterentwicklung von KI unheimlich viele Möglichkeiten bietet.

Sie haben in diesem Interview vielmals das Thema Logistik von morgen angesprochen. In welche Richtung geht denn die Zukunft der Logistik – wenn Sie drei Trends der nächsten fünf Jahre nennen könnten.

Erstens wird viel mehr Fracht mit Sensoren ausgestattet sein. IoT-Devices werden viel mehr Einzug nehmen, was zu einer viel besseren Nachvollziehbarkeit von Warenströmen und Informationsströmen führen wird. Der zweite Trend, der sich daraus ergeben wird, ist, dass durch KI neue Formen von Optimierungen und Vorhersagen möglich sein werden. Drittens werden sich die Logistikketten sehr stark durch das Thema Sustainability verändern.

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