Natalia Jakubowska, Trans.iNFO: Immer mehr deutsche Unternehmen verlagern ihre Produktion nach Mittel- und Osteuropa. Im Hinblick auf die Investitionsattraktivität hat vor allem Polen eine führende Position eingenommen. Laut Statistiken sind allein im ersten Halbjahr 2022 genauso viele Investorenanfragen aus Deutschland für Polen wie im kompletten Jahr 2021 eingegangen. Wie ist der Stand heute – liegt das Interesse weiterhin auf einem so hohen Niveau?
Dr. Lars Gutheil, geschäftsführendes Vorstandsmitglied der AHK Polen: Das Interesse ist weiterhin hoch, und dafür gibt es mehrere Gründe: Polen bietet attraktive Investitionsbedingungen, vor allem durch die Nähe zum Standort Deutschland, eine hervorragende Infrastruktur, ein hochklassiges Lieferantennetzwerk und gut ausgebildete, motivierte Mitarbeiter. Zudem lässt sich ein Nachholeffekt beobachten. Ein Teil der ursprünglich für 2020 geplanten Investitionsprojekte wurde aufgrund der Pandemie erst in den Folgejahren realisiert. Es gibt auch zahlreiche andere Effekte, die mit der Pandemie und den wachsenden Unsicherheiten im Welthandel verbunden sind, wie etwa die Verkürzung von Lieferketten sowie die Abkehr von Just-in-time-Fertigung. Werke und Lagerflächen werden in Europa auf- und ausgebaut, und Polen ist die größte „best cost location“ in der Europäischen Union, auch im Hinblick auf die Produktionskosten vor Ort.
Es gab außerdem Branchen, die während der Pandemie einen Aufschwung erlebt haben. Diese Firmen nehmen nun einen Ausbau ihrer Kapazitäten vor. Besonders der E-Commerce-Boom hat in Polen zu einer hohen Nachfrage nach Logistikflächen geführt. So hat etwa Zalando angekündigt, zwei Logistikzentren mit insgesamt 4.000 Mitarbeitern in Bydgoszcz zu schaffen, um die Märkte Polen/CEE zu bedienen. Weitere Trends, wie die E-Mobilität, spielen auch eine Rolle beim Aufbau neuer Produktionskapazitäten in Europa.
Der zunehmende Fachkräftemangel in Deutschland ist darüber hinaus einer der wichtigsten Treiber für den Aufbau von Standorten im größten östlichen Nachbarland. Trotz der unruhigen weltpolitischen Lage bleibt die Attraktivität Polens weitgehend stabil – die Verankerung Polens in Nato und EU als Standortfaktoren haben dabei an Bedeutung gewonnen.Es scheint also, dass die Investitionsattraktivität Polens in der nächsten Zeit stabil auf einem hohen Niveau bleiben wird.
Die geopolitischen Spannungen haben den Trend zum Nearshoring beschleunigt. Hat Polen das Potential dazu, China als Industriestandort teilweise zu ersetzen?
Ein zweites Standbein in Europa hat für viele Unternehmen an Attraktivität gewonnen, das ist klar. Das bedeutet aber nicht zwangsläufig, die Produktion in Asien einzustellen. Für einen großen Teil des Mittelstands kommt das nicht in Frage oder wird jedenfalls eine Weile dauern – schon wegen des Netzwerks vor Ort. Außerdem machen viele Betriebe einen erheblichen Teil ihres Geschäfts in Asien. Mehr und mehr Unternehmen sichern sich aber gegen geopolitische Risiken dadurch ab, dass sie zumindest ein zweites Standbein in Europa schaffen. Dadurch haben sie eine Sicherheit, auch hinsichtlich der immer unsicheren logistischen Verbindungen und steigenden Transportkosten. “Glocalisierung” also statt Globalisierung. Polen hat sich als sicherer, nahe gelegener Kooperationspartner mit einem starken Produktions-Potenzial in vielen Bereichen bewiesen und führt heute nach den neuesten Daten des Statistischen Bundesamtes die Rangliste der attraktivsten Zulieferer und Verlagerungsländer europäischer Unternehmen an. 23 Prozent der Befragten entschieden sich für Polen, vor Deutschland (19 Prozent) und der Türkei (12 Prozent). Unter den mittel- und osteuropäischen Ländern liegt Polen in dieser Hinsicht klar an der Spitze. Die Tschechische Republik erhielt 8 Prozent und Rumänien 9 Prozent..
Welche Branchen sind für Investoren besonders attraktiv?
Grundsätzlich ist Polen für viele Sektoren ein attraktiver Investitionsmarkt. Das zeigt sich daran, dass heute fast 6.000 deutsche Tochterunternehmen in unserem östlichen Nachbarland angesiedelt sind und dort etwa 430.000 Mitarbeiter beschäftigen. Deutsche Unternehmen haben über 40 Milliarden US-Dollar in Polen investiert – das sind beeindruckende Zahlen. Polen wirbt für weitere Investitionen mit zahlreichen Anreizen und Unterstützung für Unternehmen. Viele internationale Unternehmen haben ihre Backoffices in Polen angesiedelt. Deutsche Unternehmen haben ihre Serviceabteilungen häufig in Westpolen, zum Beispiel in Wrocław oder Poznań. Eine vielversprechende Alternative ist Ostpolen. Lublin beispielsweise ist dank der neuen Verkehrsanbindung und des Regionalflughafens leicht zu erreichen, und die örtlichen Universitäten bieten eine hervorragende Ausbildung.
Einzelne Branchen stechen heraus, etwa die Branche Automotive & E-Mobility: Polen hat nicht nur erheblichen Anteil an der „klassischen“ Autoindustrie, sondern ist EU-weit der größte Exporteur von E-Bussen. Es gibt über 60 Produktionsstätten von Lithium-Ionen-Batterien für elektrische Fahrzeuge. Gerade hat Mercedes-Benz angekündigt, eine Fabrik für elektrische Sprinter zu errichten, das Investitionsvolumen liegt bei einer Milliarde Euro. Polen ist zugleich der größte Hersteller von Haushaltsgeräten in der EU: Marken wie Philips, Sharp, LG Electronics und TCL produzieren in Polen jährlich über 20 Mio. Fernseher. Gleichzeitig ist Polen einer der größten Möbelexporteure weltweit. So stammt die Hälfte aller Holzmöbel von Ikea aus Polen. Das macht das Land zugleich zum größten Exporteur von Fenstern und Türen in Europa. Spannend ist unser Nachbarland auch für die Metall-& Kunststoffverarbeitung, gerade durch sein engmaschiges Netz an Zulieferern und Subunternehmern. Deutschland ist aber auch prominent im Bereich der Unternehmensdienstleistungen auf dem polnischen Markt vertreten.
Welche Standorte abseits der Ballungsräume würden Sie als besonders zukunftsfähig einstufen?
Generell sind alle Städte in der polnischen Top 10 sehr dynamisch und verfügen über ein gutes Netz aus Unternehmen, Verwaltung und Universitäten. Sehr populär unter deutschen Investoren sind die Regionen Schlesien, rund um Kattowitz, Niederschlesien mit Breslau als Zentrum und Großpolen mit Posen als Mittelpunkt. Auch Lodz erlebt gerade eine sehr dynamische Wachstumsphase. Als Faustregel gilt: Die Arbeitslosigkeit ist im Südwesten niedriger als im Zentrum, Norden und Osten Polens, in den Regionalhauptstädten niedriger als in Kreisstädten. In vielen Regionen lassen sich attraktive Mittelstädte mit relativ geringer Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt ausmachen. Unternehmen, die sich in einer der prosperierenden und wachsenden Regionalhauptstädte niederlassen wollen, müssen sich auf namhafte und finanzstarke internationale Mitbewerber einstellen.
Der entscheidende Faktor für die meisten Investoren ist nach wie vor die geringe Höhe der Arbeitskosten pro Arbeitnehmer, die weit unter dem EU-Durchschnitt liegt – trotz jüngster Lohnanstiege. Bedeutet dies, dass Polen den Ruf als “verlängerte Werkbank des Westens” nicht losgeworden ist?
In der Tat sind die Gehälter in Polen immer noch wettbewerbsfähig mit denen in der Eurozone. Allerdings: Polen gilt nicht mehr als Low-Cost-Standort, sondern als ein Land mit optimalen Kosten pro generiertem Wert. In naher Zukunft wird die Fähigkeit zur Innovation, zur kontinuierlichen Kommerzialisierung verbesserter und neuer Dienstleistungen und Lösungen entscheidend sein, die auf dem globalen Markt eingeführt werden. Zwar kommt noch immer viel Innovation von ausländischen Investoren, doch der polnische Mittelstand hat aufgeholt, und das Land hat in den vergangenen Jahren einen Sprung nach oben auf der Wertschöpfungskette hingelegt. Wir beobachten einen hohen Wettbewerb um die besten Mitarbeiter mit den höchsten Qualifikationen. Polen hat einen hohen Prozentsatz an Studenten, sehr gute Universitäten, insbesondere solche mit einem technischen Profil. Dies wird sich mit der Zeit auf das Lohnniveau auswirken. Allerdings gibt es immer noch große regionale Unterschiede.
In letzter Zeit hat der Mangel an technischen Arbeitskräften stark zugenommen, was auch auf gewisse Defizite im polnischen Bildungssystem zurückzuführen ist. Wie beurteilen Sie die aktuelle Situation auf dem Arbeitsmarkt?
Wie in anderen europäischen Ländern, streben viele junge Leute ein Studium statt Ausbildung an. Nur 13,5 Prozent der Jugendlichen in Polen besuchen eine Berufsschule und nehmen an Formen der dualen Bildung teil. Den negativen Trend verstärkt noch der demographische Wandel. Geburtenstarke Jahrgänge gehen in Rente. Die Qualität der Berufsbildung hat sich in Polen allerdings immer weiter verbessert, nicht zuletzt orientiert am Vorbild Deutschlands. Es bleibt aber hier – wie andernorts – ein Kraftakt, junge Menschen von einer technischen Ausbildung zu überzeugen, wenn man scheinbar als IT-Experte viel mehr verdienen kann. So genannte „Sector Skills Centres“, die einzelne Branchen, Arbeitgeber, Schulen und Universitäten miteinander verbinden, sollen bei der Behebung dieser Defizite nun helfen.
Ein weiteres Problem stellt die mangelnde Vorhersehbarkeit der Wirtschaftspolitik im Lande dar. Darüber hinaus hat das Tempo der legislativen Änderungen im polnischen Steuerrecht in letzter Zeit enorm zugenommen. Wie würden Sie die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für Investoren und Unternehmertum in Polen bewerten?
Die Bürokratie, gerade in der Steuergesetzgebung, hat sich in den vergangenen Jahren tatsächlich verschlimmert. Eine Entlastung der Unternehmen hinsichtlich bürokratischer Hürden und eine transparente wirtschaftspolitische Ausrichtung sind daher wichtig, um Polen als Investitionsstandort dauerhaft attraktiv zu halten. Dies ist ein Auftrag an eine neue polnische Regierung – egal aus welchem politischen Lager diese stammen wird. Ebenso müssen Unternehmen und Kammern besser in Gesetzgebungsverfahren einbezogen werden, um sicherzustellen, dass neue Regelungen sich auch umsetzen lassen.
Im Gegensatz dazu handeln viele regionale Körperschaften hingegen sehr beherzt und unbürokratisch, wenn es um neue Investitionen geht. Generell lässt sich sagen, dass die Stimmung der Investoren hinsichtlich des Standorts noch immer sehr positiv ist. Rund 95 Prozent würden sich wieder für Polen entscheiden.
Eine Aufgabe für die nähere Zukunft ist eine konsequente Umsetzung der Energiewende – gerade vor dem Hintergrund der Krise, die der russische Angriffskrieg ausgelöst hat. Hier ist die Regierung aufgerufen, rascher zu handeln – denken wir nur an die lange Debatte zu Onshore-Windkraftanlagen. Internationale Investoren, nicht zuletzt aus Deutschland, unterliegen klaren CO2-Zielen. Wenn Polen diese Unternehmen auch in Zukunft gewinnen und halten möchte, müssen hier im Wettbewerb mit anderen Märkten klare Signale gesetzt werden. Es gibt einen interessanten Trend hin zur Erzeugung von grüner Energie durch lokale Behörden. Sonderwirtschaftszonen beispielsweise denken zunehmend darüber nach, auf ihrem Gelände erneuerbare Energie zu erzeugen, um Investoren anzuziehen.
Schließlich ist die Nichtauszahlung der europäischen Fonds ein Hindernis für viele Zukunftsprojekte. Dies trifft nicht nur den polnischen Mittelstand, sondern auch die Vorhaben von Investoren, die sich etwa in Bereichen der Infrastruktur oder der Digitalisierung engagieren möchten. Eine Lösung dieses Konflikts wäre daher ein gutes Signal für den Standort und würde den Nearshoring-Prozess weiter fördern.
Im EU-Ranking des Index für digitale Wirtschaft und Gesellschaft (DESI) 2022 belegt Polen den viertletzten Platz. Hat die polnische Politik die Bedeutung der Digitalisierung nicht wirklich erkannt?
Es gibt mehrere Ebenen, auf denen der Fortschritt der Digitalisierung in Polen betrachtet werden kann, das Bild ist nicht so eindeutig. Es sollte nicht vergessen werden, dass Polen über sehr gute technische Universitäten verfügt und das Interesse an IT-bezogenen Studiengängen nach wie vor sehr hoch ist. Außerdem sind die Polen als Gesellschaft offen für neue Technologien, und die Zahl der Personen, die ein Aufbaustudium absolvieren, ist beeindruckend. Die digitalen Kompetenzen sind relativ gleichmäßig über das Land verteilt – nicht einmal jeder vierte Programmierer (Software-Entwickler) arbeitet in Warschau. All diese Faktoren bieten eine gute Ausgangsbasis für die Digitalisierung verschiedener Lebensbereiche und die Entwicklung von Innovationen. Wir sehen am Beispiel polnischer Start-ups, die großen Erfolg haben, wie Booksy, Brainly, Deepl oder DocPlanner.
Die Region um Breslau wird manchmal als das „polnische Silicon Valley“ bezeichnet. Die Stadt und ihr Ballungsraum sind zu einem der attraktivsten Orte in Europa für die Entwicklung innovativer Technologien geworden. Die einzigartige Kombination aus wissenschaftlichem Potenzial, IT-Unternehmen, Dienstleistungszentren und Produktionskapazitäten führt dazu, dass das Interesse ausländischer Investoren an diesem Standort stetig wächst. Die AHK Polen hat eine „Digital Academy“ eingerichtet, die unter anderem Themen wie Industrie 4.0 thematisiert. Gemeinsam mit Mitgliedsunternehmen und Experten arbeiten wir an einem Aufbaustudiengang “Digital Transformation Leader”. Ein einzigartiger Vorteil dieser Studien sind Reisen zu Hightech-Unternehmen und der Erwerb praktischer Kenntnisse über die relevanten Prozesse.
Auch in puncto Energietransformation ist noch viel Luft nach oben. Wo sehen Sie hier den größten Nachholbedarf?
Ich sehe vor allem Schwierigkeiten beim veralteten Energienetz. So können etwa private Photovoltaikanlagen ihren überschüssigen Strom häufig nicht ins Netz einspeisen, weil dieses nicht die Kapazitäten bietet. Der Ausbau des Netzes muss daher parallel zu dem erneuerbarer Energieträger verlaufen. Polen setzt unter anderem auf kleine Nuklear-Reaktoren. Ebenso wichtig ist aber der Ausbau der Windkraft – offshore wie auch onshore – sowie die Erschließung weiterer Technologien, die noch kaum genutzt werden, wie etwa Geothermie. Wir erleben, dass gerade die Produktionsstätten für Wärmepumpen derzeit boomen.
Jüngste SWOT-Analysen zeigen, dass die stark gestiegene Inflation eins der größten Risiken für den Investitionsstandort Polen ist. Was sollte das Land tun, um den Kurs zu halten, damit ausländische Investoren mittelfristig nicht in andere kostengünstigere Länder abwandern?
Bisher betrachten die Unternehmen, mit denen wir sprechen, die Inflation als einen vorübergehenden Effekt. In den Ländern, mit denen Polen vorwiegend um Investitionen konkurriert, etwa Ungarn oder Rumänien, sind die Inflationsraten vergleichbar oder sogar höher. Gleichzeitig bleibt die Lohn-Preis-Spirale in Polen bisher moderat. Im Jahr 2022 sind die Löhne real sogar um 2,2 Prozent gesunken. Auch der schwache Złoty trägt dazu bei, dass die Kosten für einen Standort in Polen attraktiv bleiben. Polen muss weiterhin eine Stärken betonen, die im hohen Fachkräfte-Knowhow, einem vergleichsweise großen Arbeitspool, dem dichten Netz professioneller Zulieferer und der modernen Infrastruktur liegen. Eine große Herausforderung bleibt, wie beschrieben, die Dekarbonisierung der Energieerzeugung, die für immer mehr Branchen zu einem Schlüsselkriterium bei der Standortwahl wird.
Die Prognosen deuten allerdings darauf hin, dass die Inflation in der nächsten Zeit aufgrund der niedrigeren Preise für Rohstoffe wie Gas, Öl, Kohle und Stahl auf den Weltmärkten sinken dürfte. Trotz Inflation war das Wirtschaftswachstum bisher recht solide. Auch für 2024 sehen die Prognosen vergleichsweise gut aus. Daher sehe ich wenige Risiken für eine Abwanderung.