TransInfo

Interview: “Was mich am meisten besorgt, ist dass wir nicht gelernt haben die Covid-19 Krise mit den Mitteln des 21. Jahrhunderts anzugehen, um einen weitgehend reibungslosen Fortgang unseres gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens sicher zu stellen”

Lesezeit 7 Min.

In unserer neuen Kurzinterview-Serie präsentieren wir, wie Vertreter der Transport-und Logistikbranche sowie der Automobilindustrie das Jahr 2020 in Erinnerung behalten werden und was sie für das kommende Jahr und die nahe Zukunft erwarten. Die Interviews finden Sie bis kurz vor Weihnachten immer dienstags und donnerstags auf unserem Portal.

Heute erzählt Wolfgang Lehmacher, Supply Chain and Technology Strategist, warum ihm die Kreislaufwirtschaft besonders am Herzen liegt und vor welchen Herausforderungen heutzutage jemand steht, der global operieren möchte.

Natalia Jakubowska, Trans.INFO: Was waren die Highlights des Jahres 2020? Gab es etwas, was Sie besonders begeistert hat?

Wolfgang Lehmacher, Supply Chain and Technology Strategist: Als Fürsprecher der globalen Supply Chain Netzwerke und Freund der Innovation hat mich natürlich der Siegeszug der Digitalisierung begeistert. Insbesondere die Digitalisierung der Lieferketten, aber auch die breite Annahme digitaler Arbeitsmittel. Wer hätte gedacht, dass Videotechnologie so schnell Verbreitung finden könnte. Beeindruckt hat mich, wie die Supply Chain Netzwerke angesichts von Panikkäufen, unkoordinierten Maßnahmen und fehlender Standards für kritisches Logistikpersonal die Covid-19 Schocks doch weitgehend aufgefangen haben. Denn trotz aller Unkenrufe waren leere Regale schlussendlich doch „Mangelware”. Beruhigt hat mich, dass die Diskussion und Bestrebungen im Bereich der Nachhaltigkeit trotz unsicherer Wirtschaftslage fortgeführt werden.

Was waren die Downlights?

Geschockt hat mich der Mangel an internationaler Koordination in Bezug auf die kritischen Elemente unserer Wirtschaft. Schnell wurden die Supply Chain Netzwerke als kritischer Bestandteil zur Aufrechterhaltung unserer Versorgung identifiziert. Dennoch kam es zur Schließung von kritischer Infrastruktur und Verzögerungen an einzelnen Grenzübergängen. Beschämend ist es, wie wir mit hunderttausenden von Seeleuten umgehen, die gezwungenermassen auf den Schiffen bleiben müssen; ein Armutszeugnis internationaler Abstimmung. Zu kleineren Beeinträchtigungen kam es durch Schließung von Tankstellen, Toiletten und Servicestationen zu anbeginn der Krise, und dadurch das Lkw-Fahren oder Zugführer aufgrund von Lockdowns ihre Arbeit nicht antreten konnten. Dadurch blieb Fracht einfach stehen, Ware verdarb zum Teil. Ein anderes Downlight ist die Politisierung der internationalen Lieferketten. Handel ist Grundbestandteil unserer Zivilisation und Grundvoraussetzung für Fortschritt und Lebensstandard. Es lassen sich immer Verbesserungen finden, aber die weitgehende Selbstversorgung bleibt trotz teilweise vehementer Anstrengungen eine Utopie. Was mich am meisten besorgt, ist dass wir nicht gelernt haben die Covid-19 Krise mit den Mitteln des 21. Jahrhunderts anzugehen, um einen weitgehend reibungslosen Fortgang unseres gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens sicher zu stellen. Ich bin davon überzeugt, dass wir die bereitstehenden technischen Möglichkeiten bei weitem nicht ausgeschöpft haben. Ich denke beispielsweise an grenzüberschreitende Nutzung und Auswertung von wearables, die über Infektionen und Kontakte informieren. Auch werden die Möglichkeiten der Mobiltelefone und digitalen Werkzeuge am virtuellen Arbeitsplatz und in den Fabriken nicht ausreichend genutzt. Physikalische Distanzierung und Redesign der Arbeitsprozesse können mit dem Einsatz von Computer Vision Modellen erleichtert werden. Automatisierung kann zur Bekämpfung von Covid-19 betragen und gleichzeitig die Wettbewerbsfähigkeit von Ländern und Regionen steigern. Die Förderung der Digitalisierung sollte daher in gleichem Masse als äußerst effektive Konjunkturspritze angesehen werden, wie die Investitionen in die umweltfreundliche Wirtschaft.

Vor welchen Herausforderungen stehen wir heute?

Covid-19, anhaltende geopolitische Spannung und Protektionismus sowie Klimaziele und Extremwetter und Naturkatastrophen aufgrund des Klimawandels üben Druck auf Design und Funktionsweise der Supply Chain Netzwerke aus. Neue Arbeitsweisen, digitale Werkzeuge, IT-Systeme und Managementansätze im Bereich Beschaffung, Produktion und Absatz sind gefordert. Damit steht die Supply Chain und Logistik Branche unter starkem Veränderungsdruck. Während der erfolgreiche Umgang mit der Pandemie selbst zunehmend zum Wettbewerbsfaktor wird, behindern geopolitische Maßnahmen, wie Zölle, Exportrestriktionen und Sanktionen den Warenfluss und führen zu zusätzlichen Kosten durch die Fragmentierung der Lieferketten. Wer global operieren möchte braucht immer mehr lokale Anpassung. Viele denken an die Umgestaltung der Produktionsnetzwerke, an „re-shoring” und „near-shoring”. Allerdings sinkt die Möglichkeit des Redesigns und der Relokation mit der zunehmender Komplexität der Produkte. Unternehmen die in ihrer geographischen Diversifizierung limitiert sind, brauchen zumindest einen hohen Grad an Visibility oder situativer Wahrnehmung. Dies erhöht wieder einmal die Notwendigkeit zur Digitalisierung. Auch die unternehmensübergreifende Zusammenarbeit hat sich in der Covid-19 Krise als Erfolgsfaktor erwiesen. Partnerschaftliche Modelle entlang der Lieferketten haben sich wieder einmal bewährt. Digitalisierung und Kooperation sind aber zwei Felder die der Industrie zu schaffen machen. Daher sind Führungskräfte und Kapitalgeber wieder einmal mehr gefordert diese Herausforderung noch entschlossener anzugehen.

Welches Projekt steht bei Ihnen für das Jahr 2021 auf der Agenda?

Besonders am Herzen liegt mir die Kreislaufwirtschaft, die Circular Economy welche den Wandel von der Wegwerfgesellschaft zu einer Kultur der Wieder- und Weiterverwendung propagiert. Zirkulares Wirtschafts- und Konsumverhalten führt zu einer Schonung der Ressourcen und maßgeblichen Reduzierung der Emissionen. Die Kreislaufwirtschaft entlastet Meere, Müllhalden und das Klima. Damit auch die Kosten des Umweltschadens, die in Milliardenhöhe in der Wirtschaft zu Buche schlangen. In diesem Jahr habe ich mit einem Partner die virtuelle Plattform und Arbeitsgruppe Seven Chapters of Circularity ins Leben gerufen und wir arbeiten mit Experten aus aller Welt an zirkularen Projekten, beispielsweise am Circular Economy Internet. Ein Buch zur Circular Economy steht auch auf der Agenda 2021.

Welche Themen und Trends werden die nahe Zukunft prägen?

Angesichts der Erfahrungen der letzten zehn bis fünfzehn Jahre, wird heute wohl kaum noch jemand behaupten, die Zukunft annähernd vorherzusagen zu können. Sollte die eine oder andere Vorhersage schlussendlich eintreten, würde ich dies als Glückstreffer bezeichnen. Natürlich lässt sich einfach feststellen, dass sich Digitalisierung und E-Commerce fortsetzen werden. Experten haben auch die Pandemie seit Jahren vorhergesagt. Waren wir vorbereitet? Unser Optimismus hat uns wieder einmal einen Streich gespielt. Mein Motto für 2021 heisst „Jetzt”. Und ich hoffe, das dies zum Trend wird. „Jetzt” steht für die Fähigkeit, mit einfach allem positiv umgehen zu können. Unternehmen wie Individuen sollten ihre Sensoren schärfen und ihre Flexibilität erhöhen. Im Supply Chain Management sprechen wir von agilen Lieferketten. Dies beinhaltet beides Leistungsfähigkeit und Widerstandsfähigkeit. Was wir brauchen sind gesetzliche Rahmenbedingungen, Managementansätze und Methoden, die uns helfen heftige Schocks abzufedern, einen guten Lebensstandard für alle sicherzustellen und die Erde für zukünftige Generationen lebensfähig zu halten. Wir brauchen verantwortungsvolle Führung und Zusammenarbeit im Zentrum des Dreiecks Globalisierung, Digitalisierung und Nachhaltigkeit. Dies erfordert ein Mut zum Umdenken, Gestaltungsfähigkeit und Umsetzungskompetenz. Mentale Stabilität, Kreativität, Problemlösungsfähigkeit und soziale Kompetenz stehen daher für mich ganz hoch im Kurs. Weitgehend Qualitäten, die der Maschinenwelt, zumindest bis auf weitere Zeit, verschlossen bleiben wird. Durchaus ein plausibles Zukunftsszenario für die sich anbahnende Mensch-Maschine Welt des 21sten Jahrhunderts.

Foto: Wolfgang Lehmacher

Tags