In den großen Städten des Vereinigten Königreichs wurden im Laufe der Zeit schrittweise Zonen mit niedrigen Schadstoffemissionen, sauberer Luft und Staugebühren eingeführt, wodurch der Warentransport in städtische Gebiete mühsamer und teurer wurde. Gleichzeitig ist klar geworden, dass immer mehr Stadtbewohner den Lkw-Verkehr auf ihren Straßen begrenzen wollen. Dies hat zu Forderungen nach einer Verlagerung des Güterverkehrs auf die Schiene geführt, was leider leichter gesagt als getan ist – vor allem, wenn es sich um die städtische Logistik handelt.
Varamis Rail, ein Unternehmen, das von dem ehemaligen Lokführer Phil Read geleitet wird, glaubt jedoch, eine potenziell bahnbrechende Lösung gefunden zu haben.
Im Gegensatz zum konventionellen Schienengüterverkehr, bei dem die Güter von einer Lokomotive gezogen werden, nutzt Varamis’ Konzept umgerüstete Personenzüge, die in Endbahnhöfe einfahren und in die entgegengesetzte Richtung wieder ausfahren können. Die Züge können auch im Rahmen des regulären britischen Personennetzes eingesetzt werden und Bahnhöfe anfahren, die für reguläre Güterzüge nicht zugänglich sind.
Derzeit betreibt Varamis die Züge zwischen Birmingham und Glasgow, will aber bald auch einen Service zum Londoner Bahnhof Liverpool Street einrichten. Das Unternehmen ist der Ansicht, dass sein Konzept auch mit zahlreichen anderen Strecken kompatibel ist und das Potenzial hat, erheblich ausgeweitet zu werden.
Wie ist diese Idee entstanden und wie funktioniert der neuartige Dienst in der Praxis? Wir sprachen mit Phil Read, dem Geschäftsführer von Varamis Rail, um zu erfahren, inwieweit umgenutzte Personenzüge, die leichte Güter und Pakete transportieren, die städtische Logistik umweltfreundlicher machen könnten.
Woher die Idee kam
„Varamis Rail war eine Idee, auf die ich vor 5 Jahren kam, als ich alte, überflüssige Züge aus dem Fahrgastbetrieb nehmen wollte. Sie entsprachen nicht mehr den gültigen Vorschriften für den Personenverkehr, hatten aber noch 10 bis 15 Jahre Lebenszeit vor sich. Sie sind vollelektrisch und fahren mit hoher Geschwindigkeit, und so war es ein ganz einfaches Konzept, die Sitze und Tische herauszunehmen und die Menschen durch Pakete und leichte Frachten zu ersetzen“, erläuterte Read, wie Varamis Rail konzipiert wurde, gegenüber trans.iNFO.
„Die Idee war, Güter aus den Midlands, dem Herzstück des Logistiksektors im Vereinigten Königreich, nach Schottland zu befördern, dem Land, das oft schwer zu erreichen ist. Derzeit betreiben wir einen HGV-Leichtfrachtdienst zwischen Birmingham und Glasgow. Wir schaffen diese Strecke in weniger als 4 Stunden mit einer Flotte vollelektrischer Züge, die mit umweltfreundlich erzeugtem Strom betrieben werden. Es ist also nicht nur emissionsfrei, sondern auch unglaublich kohlenstoffarm”, fügte Read hinzu.
Nach Angaben von Read ist Varamis im Stande, zwei Züge mit je acht Waggons für fünf Nächte pro Woche zwischen Birmingham und Schottland einzusetzen. Es besteht auch die Möglichkeit, einen 6. nächtlichen Dienst an Sonntagen einzurichten.
Wie bereits erwähnt, gibt es auch Pläne für den Betrieb von Zügen zwischen Birmingham und dem Londoner Bahnhof Liverpool, der in den nächsten sechs Wochen aufgenommen werden soll. Read geht davon aus, dass die Gesamtreisezeit nach Aufnahme des Betriebs etwa zwei Stunden betragen wird.
Wer könnte vom leichten Schienengüterverkehr zwischen Stadtzentren profitieren?
Der von Varamis Rail betriebene Bahnservice ist keine Universallösung. Welche Unternehmen könnten also vom Gütertransport in umgebauten Personenzügen profitieren?
Read sagt, dass sich diese Lösung am besten für Paketdienstleister und Einzelhändler eignet. Bislang sind es vor allem Einzelhändler, die die umgebauten Züge für den Warentransport nutzen:
„Wir arbeiten derzeit mit einer Reihe von Einzelhändlern in den Innenstädten zusammen. Es scheint, dass wir von ihnen etwas mehr Zuspruch erhalten, vor allem wegen der nachhaltigen Eigenschaften, die unser Service bieten kann”, so Read.
Ben Soames, Leiter der Logistikabteilung bei Varamis Rail, erklärte gegenüber trans.iNFO, dass die Bereitschaft, auf die Schiene umzusteigen, davon abhängt, wie sehr sich die Unternehmen festen Routen verschrieben haben.
„Ich habe mit einem Paketdienstleister gesprochen, wurde aber schnell abgewimmelt, weil die Umstellung auf die Schiene möglicherweise ihr Trunking-System stören könnte. Das ist aber vor allem eine kulturelle Frage. Die meisten Einzelhändler reagieren oft schnell und sagen: ‘Ja, wir wollen das’. Einer der Spitzeneinzelhändler möchte beispielsweise nicht, dass LKW den ganzen Weg bis nach Schottland im Einsatz sind. Er ist froh, dass wir die Ware dorthin transportieren und eine weitaus umweltfreundlichere und kostengünstigere Lösung anbieten können. Zwei der bisher eingestzten Fahrzeuge übernehmen wiederum die Nachlieferung in Schottland.”
Read fügt hinzu, dass die Einzelhändler auch daran interessiert zu sein scheinen, ihre ESG-Anforderungen zu erfüllen, was sie offener für die Idee des Intercity-Schienengüterverkehrs macht.
Überdies ist Read zuversichtlich, dass in Zukunft mehr Pakete mithlfe der Züge von Varamis befördert werden. Er weist darauf hin, dass die Paketdienstleister über das nötige Volumen verfügen, und betont, dass der von Varamis genutzte Standort am Bahnhof Birmingham International eine ehemalige Red Star-Paketanlage ist, während der Standort Mossend in der Nähe von Glasgow ursprünglich für den Transport von Paketen gebaut wurde.
#Birmingham int. station ⚡️ #Varamis #train! #Unloaded #retailer #double-decker in 20 mins! Effortless movement with rolling cages.
✅ #DanX Carousel trusts Varamis for nightly #pallets (over a year!) = reliable, cost-effective solution.Share & support! logistics@varamis.co.uk pic.twitter.com/rASBZioIs5
— Varamis Rail (@RailVaramis) April 22, 2024
Rollcontainer vs. Paletten
Eine der wichtigsten Entscheidungen, die Varamis treffen musste, war die Frage, wie die Güter auf die umgebauten Personenzüge, die über Kapazität von 12 Standard-LKW-Anhängern verfügen, auf- und abtransportiert werden sollten.
Es ist selbstverständlich, dass Frachten aus gutem Grund traditionell auf Paletten befördert werden. Darüber hinaus sind die Verlader sehr daran gewöhnt. Trotzdem entschieden sich Read und sein Team für die Verwendung von Rollcontainer.
Nach Ansicht des Varamis Rail-Geschäftsführers eignen sich hier die Rollcontainer besonders gut, weil die Güter problemlos auf Züge und in Depots umgeladen werden können. Die Rollcontainer maximieren auch den verfügbaren Frachtraum, und die Einzelhändler, d.h. die Zielgruppe von Varamis, sind ebenfalls mit der Verwendung von Rollcontainer vertraut.
„Immer wieder fragt man nach Paletten, die bei Transportunternehmen sehr beliebt sind, weil sie eine sehr bequeme und effiziente Möglichkeit darstellen, Waren auf und von Fahrzeugen an Orten zu transportieren, an denen sie überwiegend eingesetzt werden können. Wir bevorzugen jedoch Rollcontainer. Wir verwenden Standard-Supermarkt-Rollcontainer oder Jumbo-Rollcontaoner, über die wir in unseren Depots in Birmingham und Schottland verfügen. Wir können etwa 400 dieser Container in einem Zug mit acht Waggons befördern”, so Read gegenüber trans.iNFO.
Gibt es ein Potenzial für ähnlichen Service auf anderen Strecken?
Während unseres Gesprächs betonte Read, dass Varamis noch dabei ist, sein einzigartiges Angebot bekannt zu machen, und räumte ein, dass die Kapazitätsauslastung zwar verbessert wurde, aber noch nicht ganz das gewünschte Niveau erreicht hat.
Read zeigt sich jedoch zuversichtlich, dass die Möglichkeiten für Wachstum vorhanden sind.
„Wir haben es geschafft, die Kapazitäten im nationalen Fahrplan für Personenzüge zu finden. Unsere Züge können aufgrund der erreichten Geschwindigkeiten mit Personenzügen kombiniert werden. So konnten wir im Fahrplansystem zusätzliche Kapazitäten finden, die im traditionellen Güterverkehr nicht zu erreichen sind. Es gibt viele Möglichkeiten, von denen andere Teile des Netzes profitieren können”, sagte der Gründer von Varamis Rail.
„Wir haben an der Westküste begonnen, weil es dort die meisten Kundenströme gibt. Nachdem wir in diesem Jahr auch London erreicht haben, wollen wir im nächsten Jahr mit der Ostküste starten und die Bahnhöfe wie Doncaster, Newcastle und Edinburgh bedienen. Dann gibt es noch andere Bahnhöfe in London, die wir möglicherweise bedienen könnten, wie London Euston, London King’s Cross, Liverpool Street und Waterloo. Es gibt auch Standorte in den Docks von Tilbury. Letztendlich wäre es das Ziel, ein Netz rund um das Vereinigte Königreich zu schaffen, das von Glasgow an der Westküste über Birmingham nach London und dann über die Ostküste über Newcastle und Edinburgh zurückführt”, fügte Read hinzu.
Um dieses Wachstum zu verwirklichen, werden natürlich mehr Züge benötigt.
Read sagt, dass Varamis im letzten Jahr 10 Züge gekauft hat, von denen die Hälfte bereits umgerüstet wurde. Er behauptet auch, dass es bei Bedarf weitere Möglichkeiten zum Erwerb von Schienenfahrzeugen gibt.
Darüber hinaus hat das Unternehmen einen Standort gefunden, von dem aus zum Jahreswechsel Zugumrüstungen und Wartungsarbeiten durchgeführt werden können.
Gleisbegrenzungen sind kein Problem
Varamis bevorzugt elektrisch betriebene Züge, weil diese natürlich eine bessere Emissionsreduzierung bieten.
Das Unternehmen weist jedoch darauf hin, dass es in dem Netz Strecken gibt, auf denen Züge mit alternativen Energiequellen erforderlich wären. Bristol-Birmingham und Edinburgh-Aberdeen sind hier zwei bemerkenswerte Beispiele.
Dennoch ist Read der Meinung, dass es innerhalb des bestehenden elektrifizierten britischen Eisenbahnnetzes noch viel Spielraum gibt:
„Die Eisenbahn wird manchmal kritistiert, weil die Elektrifizierung angeblich zu langsam vorankommt. Ich glaube, etwa 40 Prozent des Netzes sind elektrisch, aber Großbritannien hat etwa 9.000 Meilen Gleis. Wenn also 40 Prozent davon elektrifiziert sind, haben wir es im Vereinigten Königreich mit etwa 4.000 Meilen elektrifizierter Schienen zu tun, was ziemlich viel ist”, so der Geschäftsführer von Varamis Rail gegenüber trans.iNFO.
Grenzüberschreitende Ambitionen
Im April dieses Jahres stellte Varamis Rail ein Kozept für den Transport von leichten Gütern und Paketen zwischen Großbritannien und Europa vor. In dem Dokument wird der Einsatz des Siemens Velaro e320-Zuges, der für Eurostar-Dienste verwendet wird, als potenzieller Kandidat für eine Umrüstung für den Güterverkehr vorgeschlagen.
„Der Velaro e320 kann in einer Vielzahl unterschiedlicher Mehrfachkombinationen gebaut werden. Mit einem potenziellen Arbeitsraum von 960 m³ pro 8-Wagen-Zug bedeutet dies eine Steigerung von 55 Prozent im Vergleich zu den ursprünglichen Zügen der Baureihe 321, mit denen wir im Jahr 2022 unseren Betrieb aufgenommen haben. Diese Züge werden nicht nur Hochgeschwindigkeitsnetze, sondern auch traditionelle britische Hochgeschwindigkeits- und Pendlerstrecken, befahren, was sie unglaublich anpassungsfähig macht, um alle Gebiete Großbritanniens und Europas zu bedienen”, betont das Unternehmen.