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China Plus One – wie die Pandemie die Lieferketten umgestalten kann

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Die SARS-CoV-2-Pandemie und ihre Folgen für die Kontinuität der Lieferkette haben den Anteilinhabern und Leitern/innen der Logistikabteilungen vieler Unternehmen bewusst gemacht, dass es zu riskant sein kann, die Lieferantenbasis nur auf ein Land oder eine Region zu stützen. Es ist daher zu erwarten, dass in naher Zukunft viele Unternehmen mit einer gründlichen strategischen Überprüfung ihrer globalen Lieferketten beginnen werden, bei der die mit der Umgestaltung verbundenen Vorteile und Kosten analysiert werden. Einer der in der Zukunft erwarteten Trends ist die Regionalisierung der Lieferketten.

Noch im Februar dieses Jahres schien es, dass die Epidemie des neuen Coronavirus, das die mysteriöse Covid-19-Krankheit verursacht, regional begrenzt und hauptsächlich auf China beschränkt sein würde. Die Bilder aus dem von der Welt abgeschnittenen Wuhan konnten mit Besorgnis betrachtet werden, aber auch in der Hoffnung, dass das Virus Europa nicht erreichen wird, und selbst wenn, dann relativ schnell eingedämmt werden kann. In der letzten Februarwoche war die Zahl der Passagierflüge in China bereits um 42% niedriger als im Vorjahr, aber für Deutschland betrug der Rückgang nur 5%, für Großbritannien 2,7% und für Spanien 1,4%. Zwei Monate später, in der letzten Aprilwoche, ist der Rückgang der Flüge in China im Vergleich zum Vorjahr bereits auf -39% gesunken. Wenige Wochen später wurde der Passagierflugverkehr in Europa praktisch stillgelegt, und mit ihm ging auch der Luftfrachtverkehr deutlich zurück.

Das Schweizer Unternehmen Kühne+Nagel, eines der ersten globalen Logistikunternehmen, das bereits seine Quartalsberichte für das erste Quartal 2020 bekannt gegeben hat, berichtete in einer kürzlich erschienenen Präsentation vor Finanzanalysten, dass das weltweite Luftfrachtvolumen im letzten Quartal 372.000 Tonnen betrug, was einem Rückgang von 9% gegenüber dem ersten Quartal des Vorjahres entspricht. Es ist zu erwarten, dass die Ergebnisse anderer globaler Luftfrachtunternehmen ähnlich ausfallen werden, wobei die Rückgänge im zweiten Quartal noch stärker zu verzeichnen sein werden. Gleichzeitig sind die Preise für Luftfracht, die nur sehr begrenzt verfügbar ist, in den letzten Monaten erheblich gestiegen.

Nach Analysen des TAC-Index haben die Preise von Anfang März bis Mitte April um bis zu 273% zugenommen, was die Luftfracht für eine wachsende Zahl von Unternehmen, die Waren aus Asien importieren, zu einem zunehmend unrentablen Verkehrsträger macht. In dieser Situation erwägen immer mehr Produktions- und Handelsunternehmen alternative Wege, um den Transport zwischen Asien und Europa zu organisieren. Für Kunden, die es sich aufgrund der Art ihrer Geschäftstätigkeit nicht leisten können, mehrere Dutzend Tage auf die Lieferung auf dem Seeweg zu warten, wird der Schienentransport zu einer immer attraktiveren Alternative. Mit anderen Worten, die Kunden „wechseln” nicht vom Schiff auf die Bahn, weil es schneller ist, sondern vom Flugzeug auf die Bahn, weil es billiger ist.

Der Transportmittelwechsel erfordert einen Strategiewechsel

Ein Wechsel von der Luft auf die Schiene, wenn es sich nicht um eine einmalige Maßnahme handelt, erfordert eine gründlich überlegte logistische Umgestaltung der Unternehmensstrategie. Sie hat jedoch weitreichende Folgen für die gesamte Organisation der Lieferkette und das Vertriebsnetz. Der größte Teil des Luftverkehrs zwischen Asien und Europa wird nicht über lokale Flughäfen in den einzelnen Ländern abgewickelt, sondern über die wichtigsten europäischen Luftfracht-Hubs (sog. „Gateways”), die eine Konsolidierungsfunktion für die Fracht haben. Die fünf größten sind Frankfurt, Amsterdam, London, Paris und Luxemburg. Die an einen oder mehrere dieser Großflughäfen gelieferten Waren werden dann an die einzelnen Länder in Europa verteilt.

Die Organisation von Bahnlieferungen von China nach Europa verändert diese Perspektive vollständig. Schon jetzt passieren etwa 80-90 Prozent des gesamten Schienengüterverkehrs von China in die Europäische Union den Eisenbahn-Grenzübergang zwischen Polen und Weißrussland (Terespol-Brest) und gelangen dann zu einem von mehreren Frachtterminals in Małaszewicze in Polen. Für die meisten Güter, die auf der Schiene transportiert werden, ist Polen daher das „Tor zur EU” und Małaszewicze ist der erste Ausgangspunkt für die weitere Planung des Vertriebsnetzes.

Mehrere zu berücksichtigende Szenarien

Abhängig von der Abwicklungszeit, die die Endkunden in jedem Land erwarten, sind mehrere Szenarien erwägenswert. Eine davon kann die Abwicklung von Lieferungen in Gesamteuropa vom Europäischen Distributionszentrum (EDC) aus sein, das sich in Polen befindet. Ein weiteres Szenario, das in Betracht gezogen werden sollte, könnte die Strategie mehrerer regionaler Distributionszentren (RDCs) sein. Eines könnte sich zum Beispiel, wie in der Abbildung unten dargestellt, in Westpolen (z.B. in der Nähe von Wrocław) und ein weiteres in Westdeutschland oder einem der Benelux-Länder (Niederlande, Belgien, Luxemburg) befinden.

Die genaue Bestimmung der benötigten Anzahl und Lage der Verteilungszentren und die Zuordnung der einzelnen Länder und der Empfänger von Lieferungen zu ihnen erfordert jedoch eine sehr detaillierte Analyse der Daten und Ströme. Aufgrund des Komplexitätsgrades einer solchen Analyse und der Anzahl der Variablen, die gleichzeitig in die Berechnung einfließen müssen, sind auch fortgeschrittene Werkzeuge für die Analyse, Visualisierung  und Optimierung der einzelnen Szenarien erforderlich.

Beispiel für eine Lieferkette China-Polen-Europa unter der Annahme, dass Lieferungen aus China per Bahn über Małaszewicze erfolgen (Quelle: eigene Analyse von Logisys)

Karte: eigene Analyse von Logisys

Wenn aber aus logistischer Sicht ganz Europa von Polen aus als Transitpunkt für den Schienentransport aus China über Małaszewicze bedient werden kann, sollten wir dann nicht auch ein Szenario in Betracht ziehen, bei dem auch Waren, die direkt von Lieferanten mit Sitz in Mittel- und Osteuropa produziert werden, über Polen in westeuropäische Länder gelangen? In einem solchen Szenario würde Polen zu einem logistischen Konsolidierungshub für die mitteleuropäischen Lieferanten, die eine mögliche Alternative zu China und anderen asiatischen Ländern darstellen.

Eine Alternative zu China aus der Nachbarschaft

In jüngster Zeit, insbesondere nach dem Ausbruch der Coronavirus-Pandemie, zunächst in China, und der daraus resultierenden Unterbrechung der globalen Lieferketten, taucht in einer wachsenden Zahl von Publikationen und Analysen der Slogan „Regionalisierung statt Globalisierung” auf. Logistikexperten weisen auf die Notwendigkeit einer zunehmenden geografischen Diversifizierung der Zuliefererbasis hin, um die Sicherheit der Lieferkontinuität zu erhöhen. Dies bedeutet jedoch nicht sofort die Entscheidung (die aufgrund des Umfangs der getätigten Investitionen, der Verfügbarkeit von Rohstoffen usw. schwierig umzusetzen ist) , Fabriken in China zu schließen und sie z.B. nach Polen oder Mexiko zu verlagern. Vielmehr bedeutet es die Notwendigkeit, alternative Szenarien und „B-Pläne” für Lieferketten zu erstellen, falls die Verfügbarkeit von Waren, Materialien und Komponenten, die in einem bestimmten Land hergestellt werden, wieder eingeschränkt wird, wie es Anfang dieses Jahres bei Lieferungen aus China der Fall war.

In diesem Zusammenhang erfreut sich das „China Plus One”-Konzept bei Spezialisten für Strategiedesign und Lieferkettenoptimierung zunehmender Beliebtheit. Sie basiert auf der Idee, eine regionale Lieferantenbasis zu schaffen, die bei Bedarf eine mögliche Alternative zu China darstellt und aufgrund ihrer Lage in der Nähe lokaler Nachfragezentren weniger von der Verfügbarkeit und den Preisen interkontinentaler Fracht abhängig ist.

In Asien übernimmt Vietnam zunehmend die Rolle eines solchen alternativen Lieferanten (auch im Zusammenhang mit dem Kalten Zollkrieg zwischen China und den USA, der im vergangenen Jahr begann). In Nordamerika entscheiden sich viele US-Unternehmen für Lieferungen aus Mexiko, und für Westeuropa können Mittel- und Osteuropa diese Rolle erfolgreich spielen. Eine Belieferung Deutschlands oder Frankreichs mit z.B. in Polen statt in China produzierten Gütern würde nicht nur die Kosten der internationalen Luft- oder Seefracht drastisch senken, sondern durch die Verkürzung der Gesamtlieferzeit auch die erforderlichen Sicherheitsbestände deutlich reduzieren. Dies wiederum würde sich in einer geringeren Nachfrage nach Lagerraum und folglich auch in niedrigeren Gesamtlogistikkosten niederschlagen.

Die Arbeitskosten in China sind nicht die niedrigsten

In Gesprächen über das obige Szenario mit Logistikern in Deutschland und in den Niederlanden stellt sich jedoch immer öfter heraus, dass in Westeuropa immer noch das Stereotyp „Wir produzieren in China, weil die Arbeitskosten dort viel billiger sind” gilt. Und obwohl diese Aussage natürlich wahr ist, wenn man die Lohnkosten in Asien und Westeuropa vergleicht, trifft sie nicht unbedingt zu, wenn man z.B. China mit MOE-Ländern vergleicht.

Laut einer kürzlich von Beratern der Logisys Logistics Consultancy Department der HUB Logistics durchgeführten Analyse (siehe Abbildung 2) können wir am Beispiel der Löhne von Mitarbeitern der internen Logistik in etwa einem Dutzend Ländern feststellen, dass z.B. die Stundenlohnkosten für die Arbeit eines Gabelstaplerfahrers in China und Polen fast identisch sind (bis vor einigen Jahren lagen die Löhne in China um mehrere Dutzend Prozent niedriger). Mit der raschen Entwicklung der Mittelschicht und der allgemeinen Zunahme des Wohlstandsniveaus der Gesellschaft werden die Löhne der chinesischen Arbeiter immer höher. Dies wiederum macht die Kostenattraktivität Chinas als Standort für Lieferanten weniger attraktiv. Natürlich steigen die Gehälter auch in Polen und anderen MOE-Ländern, aber sie sind immer noch um ein Mehrfaches niedriger als in den „alten” EU-Ländern.

Welche Maßnahmen sollten Unternehmensleiter ergreifen, um eine optimale Lieferkette und ein optimales Vertriebsnetz für ihr Unternehmen zu entwerfen? Zunächst sollten sie mit einer gründlichen Analyse und Modellierung der aktuellen Situation beginnen. Nur durch die Erstellung eines entsprechend parametrisierten „Basisszenarios” können wir sicher sein, dass durch die Modifizierung einzelner Variablen in nachfolgenden Iterationen des Modells das identifizierte Wachstums- oder Kostenreduzierungsniveau einen Bezugspunkt in der Realität haben wird. Dann sollten wir Szenarien definieren, auf deren Grundlage wir über die Zielstruktur und strategische Veränderungen entscheiden werden (z.B. vollständige oder teilweise Umstellung des Luftverkehrs auf die Schiene, Schaffung einer alternativen Lieferantenbasis in Mittel- und Osteuropa, Entwurf eines neuen regionalen Distributionszentrums z.B. in Westpolen usw.).

Nur ein Vergleich mehrerer Optionen unter Berücksichtigung einer Reihe voneinander abhängiger Parameter (Transportkosten, Lagerkosten, Lagerhaltungskosten, Qualitätskennzahlen, Servicelevel und Auftragserfüllung usw.) ermöglicht es, das beste der analysierten Szenarien auszuwählen. Da wir uns jedoch in unserer Geschäftstätigkeit in einer Realität bewegen, die als VUCA (Volatility, Uncertainty, Complexity and Ambiguity) definiert ist, und die Covid-19-Pandemie diese Unsicherheit und Variabilität nur noch vertiefen wird, sollten wir unsere Lieferketten und Vertriebsnetze so gestalten, dass sie leicht und schnell modifiziert werden können und sich unser Unternehmen an die sich schnell ändernden Angebots- und Nachfrageniveaus und -strukturen anpasst. In der neuen, noch unbekannten und ungewissen postpandemischen Realität werden nicht unbedingt die Größten und Stärksten überleben und gewinnen, aber sicherlich die Flexibelsten und Wendigsten.

Vergleich der durchschnittlichen Stundenlohnkosten von Gabelstaplerfahrern in ausgewählten Ländern (Quelle: eigene Analyse von Logisys basierend auf Economic Research Institute und salaryexpert.com)

Grafik: eigene Analyse von Logisys basierend auf Economic Research Institute und salaryexpert.com

Przemysław Piętak – ein Experte auf dem Gebiet des Supply Chain Management, der sich seit fast 20 Jahren mit der Gestaltung und Optimierung von Logistiklösungen befasst. Seit 2018 ist er Geschäftsführer von HUB Logistics, einem finnischen Unternehmen, das Kontraktlogistikdienste und (unter dem Markennamen Logisys) Logistikberatung anbietet. Weitere Informationen: www.hublogistics.pl.

Foto: Pixabay/snoku

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