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Mobilitätspaket: Großer Anspruch, traurige Wirklichkeit

Das Mobilitätspaket, so gut es auch gemeint war, war offensichtlich nicht in der Lage, nennenswerte Verbesserungen für Fahrer, die für Transportunternehmen aus den östlichen Mitgliedsstaaten tätig sind, zu erreichen. Warm das Gesetzeskonstrukt weitgehend ins Leere läuft, begreift man, wenn man verstanden hat, wie Sozialdumping in der europäischen Transportbranche überhaupt funktioniert und welche Auswirkungen es auf seriös arbeitende Unternehmen hat.

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Laut den Erhebungen des Bundesamtes für Logistik und Mobilität (BALM; bis 2022 Bundesamt für Güterverkehr – BAG), sind ca. 40 Prozent der schweren Nutzfahrzeuge auf den deutschen Autobahnen aus den „neuen“, östlichen Mitgliedsstaaten. Allein auf Polen entfallen ca. 20 Prozent der Transporte. 50 Prozent der Fahrzeuge sind aus Deutschland (inkl. einem erheblichen Anteil an Servicefahrzeugen, Baustellen- und Landwirtschaftsverkehr). Nur rund 10 Prozent der Fahrten entfallen auf die westlichen EU-Staaten.Dementsprechend erfolgt der überwiegende Teil des internationalen Straßentransports durch Anbieter aus östlichen Staaten der Union. Es stellt sich die Frage, wie es innerhalb von nicht mal 20 Jahren zu einer weitgehenden Verdrängung westeuropäischer Transportunternehmen im Bereich internationaler Transporte kommen konnte. Zumal die Kosten für Diesel, Maut, Anschaffung- und Unterhaltskosten für LKWs/SZM auf vergleichbaren Strecken faktisch identisch sind, und für alle Fahrer die nationalen Mindestlohngesetze in Westeuropa gelten. D.h., dass auch für ausländische Fahrer (in der Theorie) eine Entlohnung auf westlichem Niveau sichergestellt ist – unabhängig davon, ob der Betreiber des Fahrzeugs in Vilnius, Bukarest, Warschau oder Berlin ansässig ist. Lässt sich der zu beobachtende Verdrängungswettbewerb mit Sozialdumping erklären und falls ja, wie funktioniert das?

Camion Pro ging dieser Frage auf den Grund. Über 1000 Fahrer aus der Ukraine und Weißrussland, die für Transportunternehmer aus Polen und Litauen in Deutschland und Westeuropa tätig sind, hat der Berufsverband hierfür 2021 über ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen befragt. Die Ergebnisse wurden zusammen mit Dr. Groschopf (Wirtschaftsuniversität Wien) und Prof. Lee (University of Brisbane) in einer Studie veröffentlicht, und dokumentieren die sehr problematische Gesamtsituation der internationalen Transportbranche.

Konkret besagt die Ergebnisse der Studie u.a. Folgendes:

• Lediglich 7,6 Prozent der Umfrageteilnehmer verfügen über eine Pensionsversicherung.
• 63 Prozent der Umfrageteilnehmer haben keine Arbeitslosenversicherung.
• 27 Prozent der Fahrer erhalten kein fixes Gehalt.
• 25 Prozent der Fahrer erhalten ein fixes Gehalt von 400 € oder weniger pro Monat.
• 35 Prozent der Fahrer erhalten von ihrem Arbeitgeber gefälschte Dokumente, wie z. B. Urlaubsscheine, Hotelrechnungen, Transportdokumente.

Weiterhin zeigt die Studie, dass in fast allen Fällen die Spesenzahlungen nicht mit nationalem Recht vereinbar sind oder wie in Litauen, das nationale Recht dem EU-Recht widerspricht. Hinzu kommt, dass westeuropäische Staaten in den entsendenden Ländern so gut wie keine Möglichkeit haben, die Beschäftigungsverhältnisse und Sozialstandards der Fahrer zu kontrollieren.
Eingebürgert hat sich in der Praxis eine annähernde steuer- und sozialversicherungsfreie Bezahlung auf der Basis von „Spesen“, die fast flächendeckend – von Rumänien am schwarzen Meer bis Polen, an in der Ostsee – anzutreffen ist. Die Folgen sind hochproblematisch und dennoch oftmals erst auf den zweiten Blick deutlich, obwohl sie neben der Wettbewerbsverzerrung auch die Glaubwürdigkeit der Europäischen Union als Wertegemeinschaft in Frage stellen.

Sozialdumping in der Transportbranche funktioniert zumeist nicht über Dumpinglöhne an der Grenze zum Existenzminimum, wie es viele vielleicht erwarten würden. Vielmehr erfolgt es, im Wortsinn von „Sozialdumping“ durch die massive Umgehung von Sozialstandards und dem Aushebeln faktisch jeglicher gesetzlichen Arbeitnehmerrechte. Konkret wird der Arbeitnehmer in der Regel zu einem Minimalgehalt von wenigen hundert Euro am Standort des entsendenden Transportunternehmens angestellt. Der weitaus größte Teil des Gehalts wird als „Tagespauschale“ ausbezahlt. Je nach Herkunftsland werden diese „Pauschalen“, kreativ als „Spesen“ getarnt oder wie z.B. in Litauen sogar im Einklang mit den nationalen Gesetzen offiziell als steuer- und sozialversicherungsfreie Beträge ausbezahlt.


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Bei einem Arbeitnehmer, der 4/5 seines Gehaltes als „Spesen“ erhält, sind zwangsläufig alle Arbeitnehmerrechte fast vollständig eliminiert. Urlaubsgeld, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und sogar der Kündigungsschutz laufen faktisch ins Leere, da stets das minimale Grundgehalt ohne die zusätzlichen „Spesen“ als Bemessungsgrundlage dienen Gleiches gilt auch für Renten- und Berufsunfähigkeitsleistungen. Der Arbeitnehmer befindet sich dadurch in massiver Abhängigkeit vom Arbeitgeber und das Arbeitsverhältnis gleicht einem frühkapitalistischen Niveau . Selbst die Grenzen zum Menschenhandel werden in diesen Fällen nicht selten tangiert, was das Beispiel „Gräfenhausen“ am Ende des Beitrags zeigt. Erschwerend kommt hinzu, dass Fahrer aus betreffenden Staaten teilweise von ihren Speditionen mit gefälschten Dokumenten ausgestattet werden, um bei Kontrollen die Polizei und Behörden täuschen zu können . Hier ist durch den Spediteure der Tatbestand der Urkundenfälschung und Anstiftung zu Straftaten und durch den Fahrer ein Betrugs-Tatbestand verwirklicht.

Unzweifelhaft sind derart angestellte Fahrer, trotz des hohen Einkommen (gem. an dem Heimatland) die Verlierer, die Spediteure in den östlichen Staaten die Hauptgewinner des Sozialdumpings. So ist z. B. der Fall eines litauischen Unternehmens bekannt, das noch vor 20 Jahren nur eine Handvoll LKWs betrieb. Heute gehört das Unternehmen mit über 11.000 Fahrzeugen zu den größten Flottenbetreibern Europas. Und das, obwohl Litauen nur 2,8 Mio. Einwohner zählt und am äußersten Ende der EU liegt! In Anbetracht der Tatsache, dass ein Simas-Abgeordneter (Simas = litauisches Parlament) gegenüber Camion Pro offen eingeräumt hat, dass Speditionen in Litauen zu den systemrelevanten Faktoren gehören, und Politik kaum gegen die Interessen der Spediteure gemacht werden kann, erscheint es hingegen wenig verwunderlich. Vielmehr ist Litauen als eines aus einer Reihe von Staaten zusehen die die Augen vor kriminellen Umtrieben geschäftstüchtiger Unternehmer verschließen.

Die Nutznießer des internationalen Sozialdumpings in der Transportbranche sind allerdings nicht nur osteuropäische Staaten und Spediteure. Häufig profitieren auch große deutsche Logistiker vom Sozialdumping. Osteuropäische Subunternehmer werden hier aufgrund der günstigen Angebote, für die Durchführung von Ladeaufträgen seit Jahren gerne befrachtet. Hier hält offenbar der deutsche Staat, ebenso wie die osteuropäischen Nachbarstaaten, schützend die Hände über die Täter.Die verladende Wirtschaft profitiert von günstigen Frachtpreisen und bedient sich zunehmend auch direkt bei osteuropäischen Anbietern. Deutschland als Logistikweltmeister und Vize-Exportweltmeister profitiert vom günstigen Warentransport und zudem von daraus resultierenden Steuereinnahmen. Nutznießer sind dabei insbesondere

Mobilitätspaket

Der Europäischen Kommission sind diese Missstände nicht entgangen, und so sollten mit der Verabschiedung des EU-Mobilitätspakets (Juli 2020) gesetzliche Grundlagen etabliert werden, um zumindest den gravierendsten Missständen entgegenzutreten. Über die Sinnhaftigkeit und Rechtmäßigkeit der einzelnen Ansätze wird seitdem heftig diskutiert, gestritten und sogar geklagt – allen voran über und gegen die „Rückkehrpflicht für LKW an ihre Heimatstandorte“. In der Theorie ein vermeintlich guter Ansatz, lassen sich in der Praxis, wenn überhaupt, nur sehr begrenzte Auswirkungen des Mobilitätspakets feststellen. Wesentlich mehr Auswirkungen auf die Lebens- und Einkommenssituation der Fahrer (als alle Gesetzesnovellen und Mindestlohnvorschriften der letzten Jahre zusammen) hatten hingegen die COVID-19 Pandemie, der Ukrainekrieg sowie die Energiekrise und die damit verbunden Schwankungen der Frachtpreise. So wurden z.B. vielen Fahrern während der Pandemie die Löhne, teilweise sogar rückwirkend, um bis zur Hälfte gekürzt. Fahrer, die damit nicht einverstanden waren, mussten den LKW räumen und waren (als eine der Auswirkungen des vorrangig als Spesen ausgezahlten Gehalts) sofort arbeitslos.

Ähnliches berichten Fahrer, die für ein polnisches Unternehmen tätig waren, und im Sommer 2023 in Gräfenhausen, Deutschland, mehrere Monate – unter anderem mit einem Hungerstreik – gegen die illegalen Praktiken des polnischen Unternehmens aufmerksam machten. Erschreckenderweise vermochten die deutschen Behörden, Gewerbeamt, Zoll, Polizei, und auch das BALM, über Monate nicht, die Rechte der Arbeitnehmer aus Georgien und Usbekistan sicherzustellen. Auch das Mobilitätspaket konnte daran nichts ändern. Denn, egal wie gut dieses von den Gesetzgebern in Brüssel gemeint war: Wenn es in den Mitgliedsstaaten an der Fähigkeit und/oder dem Willen fehlt, Gesetze in der Praxis umzusetzen, werden derartige Initiativen leider ein zahnloser Papiertiger mit bestenfalls einer Feigenblatt-Funktion bleiben.

Zu Camion Pro
Camion Pro e. V. ist ein Verband für die Transportbranche mit ca. 450 Mitgliedsunternehmen, die größtenteils in Deutschland ansässig sind. Camion Pro ist der Kompetenzträger im Bereich Sozialdumping und Wirtschaftskriminalität in der Transportbranche, und geht seit Jahren gegen Sozialdumping und Wettbewerbsverzerrungen in der Branche vor. Neben einigen wissenschaftlichen Studien hat Camion Pro auch über hundert Medienbeiträge veröffentlicht oder initiiert – darunter ca. 25 TV-Beiträge, die größtenteils im öffentlich-rechtlichen -Fernsehen gesendet wurden.

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