Das Kompetenzzentrum Fachkräftesicherung (Kofa) am Institut der deutschen Wirtschaft (IW) alarmiert in einem im April veröffentlichten Jahresrückblick zum Thema Fachkräftemangel, dass es noch nie im Jahresdurchschnitt mehr offene Stellen gab als im vergangenen Jahr. Wie das KOFA beziffert lag die Zahl der offenen Stellen im Jahresdurchschnitt für qualifizierte Fachkräfte bei über 1,3 Millionen und ist damit um mehr als 300.000 angestiegen.
Die Fachkräftelücke hat damit im Jahr 2022 Rekordwerte erreicht und die Tendenz ist weiter steigend. Denn wie ein aktueller im Juni veröffentlichter Fachkräftereport des KOFA für das erste Quartal zeigt, ist die Zahl der offenen Stellen für qualifizierte Tätigkeiten im Vergleich zum Vorjahresmonat um 0,9 Prozent angestiegen.
Der Mangel an qualifiziertem Fachpersonal bereitet auch der Logistik-und Transportbranche Kopfzerbrechen. Eine Anfang 2023 veröffentlichte Konsortialstudie zur „Begegnung von Kapazitätsengpässen in der Logistik mit Schwerpunkt Fahrpersonal“ unter der Leitung der Professoren Wolfgang Stölzle von der Logistics Advisory Experts (Spin-off der Universität St. Gallen), Thorsten Schmidt von der Technischen Universität Dresden und Christian Kille vom Institut für Angewandte Logistik der Technischen Hochschule Würzburg-Schweinfurt (THWS) hat anhand eines eigens für die Studie entwickelten Modells den Mangel an Fahrpersonal auf Basis aktueller Statistiken quantifiziert und berechnet, dass aktuell mehr als 70.000 LKW-Fahrer fehlen und dass der Fahrermangel jährlich um rund 20.000 Fahrer zunehmen wird. Wie die Experten betonen, ist dieser Mangel damit relativ gesehen größer als in der Pflege oder der Erziehung. Darüber hinaus hat die Studie ergeben, dass durch den Fahrermangel im Jahr 2022 zusätzliche Kosten für die deutsche Wirtschaft in Höhe von ca. 10 Milliarden Euro entstanden sind.
Fahrermangel in ausgewählten europäischen Ländern im Jahr 2021
Langsam, aber sicher machen sich auf dem Arbeitsmarkt auch die Folgen des demographischen Wandels bemerkbar. In den nächsten zehn Jahren werden in Deutschland voraussichtlich 7,3 Millionen Menschen in Rente gehen. Wenn bei gleichbleibender Nachfrage nach Fachkräften weniger junge Menschen in den Arbeitsmarkt eintreten, droht eine deutliche Verschärfung der Fachkräfteengpässe. Das belegt eine repräsentative Studie des KOFA vom letzten Jahr.
Stark geprägt von einer möglichen Verschärfung des Fachkräftemangels könnte auch die Logistikbranche sein. Der Anteil der Älteren liegt hier bei 32,4 Prozent. Sollten diese Personen in den kommenden zehn Jahren in den Ruhestand gehen, könnte das den Arbeitsmarkt kräftig beeinträchtigen.
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Kanada-Punktesystem und Chancenkarte
Die Sicherung unserer Fachkräftebasis ist eine der größten ökonomischen Aufgaben Deutschlands für die nächsten Jahrzehnte. Wir müssen das Potenzial im Inland besser nutzen, etwa durch mehr Aus- und Weiterbildung und eine höhere Erwerbsbeteiligung von Frauen und Älteren. Zusätzlich werden wir aber auch Fachkräfte aus dem Ausland brauchen. Mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz legen wir den Grundstein für ein modernes Einwanderungsland, das qualifizierte Zuwanderung nicht nur hinnimmt, sondern auch will, sagte im März Bundesarbeitsminister Hubertus Heil, als das Kabinett das neue Fachkräfteeinwanderungsgesetz beschlossen hatte.
Am 7. Juli wurde das neue Einwanderungsrecht im Bundesrat beschlossen. Das Gesetz knüpft an das Kanada-Punktesystem an und soll qualifizierten Fachkräften aus dem Ausland erleichtern eine Erwerbstätigkeit in Deutschland auszuüben oder eine Ausbildung hierzulande zu absolvieren.
Nach dem neuen Recht wird wer einen in Deutschland erworbenen oder anerkannten Abschluss hat, als Fachkraft nach Deutschland einreisen können und jede qualifizierte Beschäftigung ausüben können. Die Blaue Karte EU soll für noch mehr Fachkräfte mit Hochschulabschluss erreichbar sein.
Ebenfalls Berufserfahrung wird jetzt eine Rolle spielen. Das Gesetz wird Arbeitskräften die Einwanderung ermöglichen, die mindestens zwei Jahre Berufserfahrung und einen im Herkunftsland staatlich anerkannten Berufsabschluss haben. Der Berufsabschluss muss künftig nicht mehr in Deutschland anerkannt sein. Wer seinen Berufsabschluss aber in Deutschland anerkennen lassen will, kann das künftig auch erst nach der Einreise nach Deutschland tun. Dafür müssen sich Fachkräfte und Arbeitgeber zu einer Anerkennungspartnerschaft verpflichten.
Eine komplett neue Idee ist die Chancenkarte zur Arbeitssuche, die auf einem Punktesystem basiert. Für Qualifikation, Deutsch- und Englischkenntnisse, Berufserfahrung, Deutschlandbezug, Alter und das Potenzial des mitziehenden Ehe- oder Lebenspartners bzw. der mitziehenden Ehe- oder Lebenspartnerin werden ab jetzt Punkte vergeben.
Darüber hinaus macht das neue Gesetz für Branchen mit besonders großem Bedarf an Fachkräften eine kontingentierte kurzzeitige Beschäftigung für acht Monate möglich.
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Unternehmen stellen immer noch sehr zurückhaltend Fachkräfte aus dem Ausland ein
50.000 zusätzliche Fachkräfte aus dem Ausland pro Jahr
Die Bundesregierung rechnet mit sogar 50.000 Fachkräften aus dem Ausland jährlich. Experten und Wirtschaftsverbände sind sich bei ihren Einschätzungen zur Wirksamkeit des neuen Einwanderungsrechts nicht einig. Der Zentralverband des deutschen Handwerks ist zuversichtlich:
Das novellierte Fachkräfteeinwanderungsgesetz enthält zahlreiche gute Ansätze, um Hürden aus dem Weg zu räumen und den Zuzug von ausländischen Fachkräften, die im Handwerk so dringend benötigt werden, nach Deutschland zu erleichtern. So wird zu Recht erstmals für ausländische Fachkräfte mit Berufserfahrung für alle Branchen ein Zuwanderungsweg geschaffen, der nicht zwingend vorsieht, dass die Zuwanderer zuvor ein Anerkennungsverfahren durchlaufen müssen. Ist ein solches Verfahren dennoch nötig, kann das auch nachträglich erfolgen, also nach dem erfolgreichen Start in einem deutschen Betrieb. Positiv zu bewerten ist zudem, dass die Westbalkan-Regelung ausgeweitet und entfristet wurde. Künftig können 50.000 Staatsangehörige aus den Ländern, für die die Regelung gilt, einen Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt erhalten statt der bisherigen 25.000 Menschen. Insbesondere das Baugewerbe kann von diesen zusätzlichen Arbeitskräften profitieren. Ob die Erleichterungen beim Familiennachzug oder die Chancenkarte zur Arbeitsplatzsuche auf Basis eines Punktesystems tatsächlich zu mehr Erwerbsmigration führen, wird sich allerdings erst in der Praxis zeigen,sagte Jörg Dittrich, Präsident vom Zentralverband des deutschen Handwerks.
Der Zentralverband Deutsches Baugewerbe zeigt sich hingegen zurückhaltender:
Die vom Bundestag heute beschlossenen Neuregelungen zur Fachkräfteeinwanderung gehen in die richtige Richtung, aber sie greifen immer noch zu kurz. Der Praxischeck wird bald zeigen, dass noch nachgesteuert werden muss. Bestanden hat diesen Check schon die Westbalkan-Regelung, die von der Ampelkoalition entfristet wurde. Wir begrüßen diese Entscheidung sehr. […]Bei allen anderen Zuwanderungsmöglichkeiten sind die formellen Hürden immer noch zu hoch. Das Fachkräfteeinwanderungsgesetz verlangt eine mindestens zweijährige Berufsausbildung und eine ebenso lange Berufserfahrung. Da es weltweit in vielen Ländern keine zweijährigen Bau-Berufsausbildungen gibt, schafft dies insbesondere für den Bedarf nach Arbeitskräften unterhalb des Fachkraftniveaus unnötig hohe Zugangshürden. Zudem hängt der Erfolg der Neuregelung auch maßgeblich davon ab, ob es gelingt, die Verwaltungsverfahren zur Zuwanderung in den Ämtern und Botschaften soweit zu digitalisieren, dass lange Verfahrensdauern nicht mehr eher abschreckend wirken, sagte Hauptgeschäftsführer Felix Pakleppa.