In folgendem Kurzinterview gibt Willem van der Schalk, Vorsitzer des Komitee Deutscher Seehafenspediteure im DSLV, in kurzen Statements eine Einschätzung zu der Frage, warum die internationalen maritimen Lieferketten derzeit angespannt sind.
Weshalb zeigen sich Speditionen und Industrieverlader über die aktuelle Angebotssituation in der Container-Linienschifffahrt so besorgt?
Seit Beginn des Jahres 2020, also dem Zeitpunkt des Ausbruchs der globalen COVID 19-Krise, sind die internationalen maritimen Lieferketten äußerst angespannt, vor allem im Asien-Europa-Verkehr. Denn anders als ursprünglich befürchtet, ist der globale Handel nicht zum Erliegen gekommen. China und die meisten fernöstlichen Staaten haben sich schnell von den konjunkturellen Folgen der Pandemie erholt – auch deshalb, weil die europäische Industrie ihre Vorprodukte- und Rohstoffvorräte auffüllt und die Konsumgüternachfrage vor allem in den USA und in Europa den Online-Handel befeuert hat. Der wachsenden Nachfrage steht jetzt eine drastische Verknappung von Schiffsraum und Containern gegenüber, was zu einer Steigerung der Seefrachtraten sowohl im Kontrakt- als auch im Spotmarkt um 300 Prozent innerhalb eines Jahres geführt hat. Die Raten befinden sich heute auf einem Allzeithoch und das bei sinkender Pünktlichkeit und Qualität. Internationale Speditionshäuser kämpfen geradezu um Container und Containerstellplätze auf Seeschiffen. Die Folgen spüren nicht nur die Logistikkunden aus Industrie, Groß- und Außenhandel. Auch Einzelhändler und Verbraucher bemerken längst die Engpässe bei Fertigwaren und Komponenten. Aktuell wird die Situation durch die Sperrung des Suez-Kanals infolge einer Schiffshavarie zusätzlich verschärft. Die desolate Lage bremst den Wirtschaftsaufschwung in ganz Europa.
Ist der drastische Preisanstieg in der Seeschifffahrt eine nachvollziehbare Reaktion des Marktes?
Natürlich werden Preise stets am Markt gebildet, sodass die gegensätzlichen Marktseiten von den jeweiligen Angebots- und Nachfrageänderungen profitieren. Lange Zeit litten die Reedereien ja auch wirtschaftlich unter ihren Überkapazitäten, deshalb ist es nur legitim, dass sie in der aktuellen Phase wieder Gewinne erzielen. Grundsätzlich kritisiere ich auch nicht steigende Preise, ich hinterfrage aber, ob der Markt als solcher noch funktioniert. Denn einseitig zu Lasten der Nachfrageseite, also der Speditionen und der Industrieverlader, beeinflusst werden können. Nach meiner Einschätzung hat die Linienschifffahrt die Kapazitäten bewusst knappgehalten, zumindest aber auf durch fortschreitende Konzentrationsprozesse hat sich das Angebot der Containerschifffahrt auf heute neun Linienreedereien verengt, die sich in drei global agierende Allianzen zusammengeschlossen haben. Diese Allianzen kontrollieren derzeit zusammen etwa 86 Prozent des weltweiten Containervolumens. Hierbei handelt es sich somit um ein echtes Angebotsoligopol, wodurch der Wettbewerb punktuell beschränkt wird und Marktregeln noch lukrativere Routen in den Pazifikraum umgelenkt. Ob die von den Reedereien jetzt angekündigten Schiffsraumbestellungen Abhilfe schaffen, bleibt abzuwarten.
Märkte und Wettbewerb unterliegen in der Regel einer strengen Aufsicht. Wie reagieren die Wettbewerbsbehörden auf die Situation?
Leider überhaupt nicht. Denn europäisches Wettbewerbsrecht beschränkt die Marktmacht der Allianzen nicht – im Gegenteil: die Europäische Kommission hat sogar noch im März 2020 die Gruppenfreistellungsverordnung (GVO) EG 906/2009 für Seeschifffahrtskonsortien um weitere vier Jahre verlängert. Dadurch werden Container-Linienreedereien weiterhin vom grundsätzlichen Verbot unternehmensübergreifender und wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen und Verhaltensweisen ausgenommen. Sofern gemeinsame Marktanteile bei nicht mehr als 30 Prozent liegen und keine Preisabsprachen getroffen werden, so die GVO, dürfen sich konkurrierende Container-Linienreedereien grundsätzlich zu Konsortien zusammenschließen, gemeinsam Schiffe nutzen und untereinander Fahrpläne abstimmen. Die Kommission begründet ihre Entscheidung damit, dass die Bildung von Konsortien die Auslastung von Frachtkapazitäten und die Dichte der Linien-Verbindungen erhöhe. Dadurch seien Reederei-Kosten und Frachtraten in den vergangenen Jahren bei gleichbleibender Leistungsqualität gesunken. Doch diese Feststellung ist schlichtweg falsch! Die Kommission vernachlässigt völlig die Marktentwicklung und bietet damit eine Basis für weitere Wettbewerbsverzerrungen. Jüngste Untersuchungen zeigen im Übrigen, dass alle 20 Handelskorridore von und nach Nordeuropa von einem oder mehreren Reederei-Konsortien mit Marktanteilen von mehr als 30 Prozent befahren werden, bei sieben übersteigen die Marktanteile der Konsortien sogar 50 Prozent. Diese Konzentration auf wenige Marktteilnehmer gefährdet eine sichere Lieferkette. Durch erneute Intervention des europäischen Speditionsverbands CLECAT ist in Brüssel zumindest jetzt wieder Bewegung in die Diskussion gekommen.
Wie macht sich die aktuelle Lage in der praktischen Zusammenarbeit zwischen Speditionen und Container-Linienreedereien bemerkbar?
Die Kooperation wird zunehmend schwieriger. Speditionshäuser können unter diesen Umständen ihre Leistungszusagen gegenüber ihren Kunden kaum noch einhalten. Denn die gestiegenen Frachtraten werden begleitet von wachsenden Qualitätsdefiziten: Schiffe sind unpünktlich, Container sind Mangelware und erhalten Verladegarantien, werden im Hinterland zügig abgefertigt und problemlos umgebucht. Speditionen wiederum, die im Auftrag ihrer Kunden Containerkapazitäten buchen wollen, erhalten keine verbindliche Buchungszusage mehr – es sein denn, sie zahlen stets neue Gebühren und Aufschläge (Surcharges) für Shipping-Garantien. Vor allem zur Auslastung ihrer Großcontainerschiffe drängen Reedereien mit Macht tief in den Speditionsmarkt, dazu noch oft beschädigt. Zudem ist die Fehlerrate bei den Frachtdokumenten (Bill of Loading) hoch. Alles eine Folge des abnehmenden Wettbewerbsdrucks unter den Linienreedereien, die Carrier’s Haulage- gegenüber Merchant’s Haulage-Containern bevorzugen. Ihre in eigener Regie betriebenen Container indem sie zunehmend intermodale Haus-zuHaus-Verkehre, Terminaldienstleistungen und logistische Dienstleistungen anbieten – eine weitere Folge der GVO, die schiffszentrierte Logistikunternehmen gegenüber speditionszentrierten Non Asset-Logistikunternehmen, die deutlich flexibler, kompetenter und kundenorientierter arbeiten, begünstigt. Brüssel muss hier dringend handeln!
Welche Auswirkungen hat die Schiffsgrößenentwicklung auf Häfen und Hinterland-Verkehre?
Die Container-Linienreedereien haben in den letzten Jahren eine expansive Schiffsgrößenentwicklung betrieben und verstärkt in ultragroße Containerschiffe (ULCVs) investiert. 20.000 TEU sind hier keine Ausnahme mehr. Um Hafen- und Liegegebühren zu sparen, müssen diese Riesen gigantische Containermengen innerhalb kürzester Zeit laden und löschen. Dies führt zu gewaltigen Peak-Belastungen sowohl in den Terminals als auch bei den Hinterland-Verkehrsträgern und ihren Infrastrukturen. Störungen wie Schiffsverspätungen haben deshalb erhebliche negative Auswirkungen in der gesamten Logistikkette, die nur mit großen dispositiven Anstrengungen behoben werden können. Auch hier dominieren die Interessen der Reedereien, die mit wachsender Schiffsgröße aber letztlich auch ihre eigene Flexibilität einbüßen.
Foto: Willem van der Schalk, Vorsitzer des Komitee Deutscher Seehafenspediteure im DSLV Bundesverband Spedition und Logistik e.V. (KDS im DSLV)