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Was passiert, wenn ein 40-Tonnen-Elektro-LKW verunglückt? Mercedes-Benz hat es herausgefunden

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Auf einer stillen Teststrecke in Norddeutschland herrscht gespannte Ruhe. Ingenieure und Sicherheitsexperten von Mercedes-Benz Trucks stehen hinter verstärktem Glas, die Augen auf einen schweren LKW gerichtet, der für den Aufprall bereitsteht. Sekunden später trifft über eine Tonne Masse mit mehr als 50 km/h seitlich auf den eActros 600 - ein realer Crashtest, der zeigen soll, was passiert, wenn batteriebetriebene Straßenriesen auf die harten Gesetze der Physik treffen.

Als sich der Staub legt, ist das Ergebnis eindeutig: Trotz der Wucht des Aufpralls bleiben das Hochvoltbatteriesystem und die elektrischen Komponenten des Lkw intakt. Für die Entwickler ist das ein Meilenstein – ein Beweis dafür, dass elektrische Langstrecken-LKW die gleichen Sicherheitsstandards wie Dieselmodelle erfüllen können. Oder sie sogar übertreffen.

Crashtest wie beim Diesel – aber mit neuen Herausforderungen

Das interne Unfallforschungsteam von Mercedes-Benz Trucks war von Anfang an an dem Projekt beteiligt. Anhand von realen Unfalldaten identifizierte das Team typische Unfallszenarien für schwere Lasten, insbesondere Frontal- und Seitenaufprälle, und passte die Fahrzeugstruktur entsprechend an.

Der eActros 600 verfügt über:

  • eine verstärkte Kabine mit definierten Energieabsorptionszonen, die Aufprallkräfte gezielt über optimierte Strukturen ableiten,
  • eine Rahmenarchitektur für Hochlasten, speziell für Elektro-LKW entwickelt, die selbst unter extremer Verformung die Stabilität des Batteriegehäuses gewährleistet,
  • Airbags und Gurtstraffer in allen Kabinenvarianten für verbesserten Insassenschutz.

“Die mechanische Belastung war hoch – aber unser Konzept funktioniert zuverlässig”, sagte Frank Müller, Leiter der Unfallforschung & passiven Sicherheit bei Mercedes-Benz Trucks, nach dem Test in Neumünster.

Das Seitenaufprallszenario wurde gewählt, um eine der gefährlichsten Unfallarten für schwere Fahrzeuge zu simulieren. Der Crash zeigte, dass das Batteriegehäuse keine kritische Verformung aufwies und den Überlebensraum des Fahrers selbst unter extremen Bedingungen schützte.

Im Crashtestlabor

Jeder Crashtest ist das Ergebnis monatelanger simulationsbasierter Analysen. Vor dem Aufprall werden Dutzende von Sensoren installiert und kalibriert, um Kräfte, Verformungen und thermische Reaktionen im gesamten LKW zu messen.

“Für mich persönlich sind die letzten zwei bis drei Minuten vor dem Crash besonders faszinierend”, sagte Christoph Berger vom Team der passiven Sicherheit. “Alles wird leiser als zuvor, und es liegt eine konzentrierte Spannung in der Luft.”

Fotoquelle @ Daimler Truck

Wenn die Testsequenz ausgelöst wird, sind Geräusch und Gewalt sofort spürbar — aber die Daten sind Gold wert. Nach jedem Test führen Notfallspezialisten eine Sicherheitsfreigabeprüfung durch, um sicherzustellen, dass keine elektrischen Gefahren vorhanden sind, bevor die Ingenieure das Fahrzeug für eine detaillierte Schadensanalyse zerlegen.

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Hochvoltsystem für extreme Belastungen

Das Hochvolt (HV) System des eActros 600 ist um drei Lithium-Eisenphosphat (LFP) Batteriepakete aufgebaut, jedes mit 207 kWh, was eine installierte Gesamtkapazität von 621 kWh ergibt. LFP-Chemie bietet eine lange Lebensdauer und eine nutzbare Kapazität von über 95 % — das bedeutet, dass mehr von der gespeicherten Energie der Batterie im Vergleich zu anderen Chemien abgerufen werden kann.

Das System erfüllt strenge interne Standards für Isolierung, mechanische Festigkeit und Brandschutz, die die aktuellen gesetzlichen Anforderungen übertreffen. Nach einem schweren Crash helfen diese Sicherheitsmaßnahmen, elektrische Gefahren und thermische Ereignisse zu verhindern, was nicht nur den Fahrer, sondern auch Einsatzkräfte und Unbeteiligte schützt.

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Serienfahrzeuge, sagt Mercedes-Benz, müssen markenspezifische Crashtests bestehen, die über die EU-Vorschriften hinausgehen. Der Hersteller strebt an, eine Langlebigkeit zu gewährleisten, die der eines konventionellen Diesel-Actros entspricht — bis zu 1,2 Millionen Kilometer in zehn Jahren Betrieb, wobei die Batterie nach diesem Zeitraum über 80 % ihrer Kapazität behält.

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Sicherheit auch über die Struktur hinaus

Ergänzend zum physischen Schutz sind mehrere fortschrittliche Fahrerassistenzsysteme, darunter:

  • Active Brake Assist 6 mit 270° Umgebungsüberwachung, fähig, den LKW autonom zu stoppen, wenn eine Kollisionsgefahr erkannt wird.
  • Active Sideguard Assist 2 und Front Guard Assist, die helfen, Seiten- und Frontalunfälle mit Fußgängern oder Radfahrern zu verhindern.
  • Active Drive Assist 3, unterstützend beim halbautomatisierten Fahren auf Autobahnen.
  • Attention Assist 2, warnend bei Unaufmerksamkeit oder Müdigkeit der Fahrer.

Um sicherzustellen, dass schutzbedürftige Verkehrsteilnehmer den nahezu geräuschlosen LKW hören können, ist er zudem mit einem Akustischen Fahrzeugwarnsystem (AVAS) ausgestattet, das ein dem Tempo und der Beschleunigung angepasstes Klangprofil aussendet, konform mit den EU-Regularien für Elektrofahrzeuge.

Warum die Tests nach der Markteinführung fortgesetzt werden

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Obwohl die Serienproduktion im Wörther Werk Ende 2024 begann und die Auslieferungen an Kunden im Dezember starteten, wurden die Crashtests nicht eingestellt. Mercedes-Benz führt weiterhin physische Sicherheitstests durch und speist reale Daten aus Fuhrparks in zukünftige Updates ein.

Dieser laufende Prozess ist Teil der „Vision Zero“ Strategie des Herstellers, die darauf abzielt, Verkehrstote durch seine Fahrzeuge langfristig zu eliminieren. Kontinuierliche Tests gewährleisten auch die Einhaltung sich wandelnder gesetzlicher Vorschriften und erlauben die Integration von kundengetriebenen Designverbesserungen.

Elektrische Reichweite, Nutzlast und Konfigurationen

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Der eActros 600, benannt nach seiner Batteriekapazität, erreicht rund 500 Kilometer Reichweite ohne Zwischenladung bei Betrieb mit einer Bruttokombinationsmasse von 40 Tonnen unter realen Langstreckenbedingungen bei 20°C. Mit Zwischenladen während der vorgeschriebenen Fahrerpausen kann das Fahrzeug mehr als 1.000 Kilometer pro Tag zurücklegen.

Technisch unterstützt die Sattelzugmaschine bis zu 44 Tonnen GCM, mit einer Nutzlast von etwa 22 Tonnen in der Standard-EU-Konfiguration. Das Modellportfolio umfasst jetzt über 40 Fahrzeugvarianten, die zwei oder drei Batteriepakete, verschiedene Radstände und neue Achskonfigurationen bieten, um unterschiedlichen Transportanwendungen gerecht zu werden.

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