Co-Autor: Dweep Chanana
Die erste Welle der digitalen Logistikprobleme war geprägt von Notverkäufen, Insolvenzen und Bankrotten, wie dem Insolvenzantrag von Instafreight und dem Zusammenbruch von Convoy, einem Unternehmen, das 1 Milliarde Dollar eingesammelt hatte und kurz vor seiner Krise auf 3,8 Milliarden Dollar bewertet wurde. In der aktuellen zweiten Welle erkennen Gründer und Investoren, dass Skalierbarkeit Ressourcen erfordert, die die Möglichkeiten einiger dieser Unternehmen übersteigt. Zudem fordert dies Geduld, die die meisten Investoren von VC-finanzierten Unternehmen nicht haben.
Die Ereignisse unterstreichen den Trend bei der Logistiktechnologie, dass die anfängliche Euphorie und der massive Zufluss von Risikokapital nun der nüchternen Realität weichen. Das Weichen der “Billigkapitalfalle”, die das Wachstum auf Kosten von soliden Renditen angetrieben hat, zwingt die Akteure, harte wirtschaftliche Realitäten zu akzeptieren. Diese Rückschläge allerdings als einen kolossalen Fehlschlag des digital-first-Frachtspeditionsmodells abzutun wäre jedoch verfrüht und wahrscheinlich falsch. Stattdessen signalisieren solche Fälle eine Entwicklung hin zu nachhaltigeren und pragmatischeren Ansätzen zur Digitalisierung der Logistikbranche.
Gründe hinter dem Ausstiegstrend
Diese zweite Welle der Veränderungen in der digitalen Logistik unterscheidet sich von der ersten dadurch, dass sie unauffälliger und “geordneter” abläuft. Was aber hat ein Gefühl der Dringlichkeit erzeugt?
Erstens deuten Gespräche mit Investoren, Käufern und Verkäufern darauf hin, dass digital-first-Akteure erkennen, dass weiteres Wachstum eine Bilanzstärke erfordert, die etablierte Unternehmen haben, aber den Disruptoren fehlt und die diese wahrscheinlich nicht leicht nachbilden können. Das Speditionsgeschäft ist kapitalintensiv; je mehr ein Speditionsunternehmen wächst, desto mehr Kapital wird benötigt. Als das Kapital billig war, wuchsen die meisten Unternehmen, indem sie regelmäßig Kapital aufnahmen. Da dieser Weg nun den meisten verschlossen ist, können sie nicht mehr so schnell wachsen und müssen sich mit Unternehmen zusammenschließen, die Kunden, Marktanteile und das notwendige Betriebskapital bereitstellen können.
Zweitens stiegen die Betriebskapitalkosten, als die Zinssätze vor einigen Jahren anstiegen. Dies hat die ohnehin niedrigen Bruttomargen vieler Unternehmen weiter verringert und das Geschäftsmodell weniger attraktiv gemacht. Es ist kein Zufall, dass der Höhepunkt der Insolvenzen digitaler Spediteure Ende 2023 und Anfang 2024 mit dem Höhepunkt des Fed-Fonds-Satzes im vierten Quartal 2023 zusammenfiel (siehe Grafik). Der Satz stieg von nahe null auf 5,33 %, wodurch die Bank- und Betriebskapitalkosten für Kredite erheblich anstiegen. Dies hat wahrscheinlich die Bruttomargen der digitalen Spediteure um mindestens genauso viel reduziert.
Ein weiterer Grund für die anhaltenden Schwierigkeiten digitaler digital-first-Akteure ist, dass es heute weniger oder unattraktive Ausstiegsoptionen gibt. Der Sektor hat seinen Glanz verloren, und Anteile von Unternehmen wie Flexport werden auf sekundären Märkten im Vergleich zu ihren letzten Runden mit Abschlägen gehandelt. Diese Unternehmen und ihre Investoren haben möglicherweise den IPO- oder SPAC-Zug zunächst einmal verpasst. Die Investoren dieser von Risikokapitalgebern unterstützten Unternehmen haben hauptsächlich durch begrenzte Fonds investiert und haben nicht die Geduld, die Unternehmen durch den gesamten Branchenumbruchszyklus, in den sie ursprünglich investiert hatten, zu unterstützen. Da viele Fonds sich ihrem Lebensende nähern, erwarten wir, dass mehr digitale Logistikunternehmen und ihre Investoren auf einen Ausstieg zusteuern.
Digitale Logistik: Versprechen mit Fallstricken
Die grundlegende Prämisse hinter digital-first-Spediteuren bleibt solide. Mit ihren komplexen, oft undurchsichtigen Prozessen und der Abhängigkeit von manuellen Abläufen benötigen traditionelle Logistikanbieter mehr Digitalisierung und Innovation. Digitale Plattformen bieten das Potenzial für höhere Transparenz, Effizienz, Zuverlässigkeit und Kosteneinsparungen.
Dennoch haben viele digitale Spediteure der ersten Generation möglicherweise die Geschwindigkeit überschätzt, mit der die Disruptoren die Branche transformieren könnten. Der Logistiksektor ist zutiefst verflochten und stützt sich stark auf menschliche Beziehungen und Fachwissen, um die Komplexität des Geschäfts und des globalen Handels zu bewältigen. Unternehmen, die sich ausschließlich auf technologische Lösungen und Innovationen konzentrieren und dabei diese menschlichen Faktoren vernachlässigen, sahen sich erheblichen Schwierigkeiten gegenüber.
Digital-first ist eine Denkweise. Die Disruptoren denken zuerst an Technologie und dann an Abläufe. Traditionelle Anbieter entgegnen: „Ihr bietet eine Technologie an; wenn unsere operativen Mitarbeiter die Lösung mögen, könnten wir einen Pilotversuch andenken.“ Ein digital-first-Akteur hingegen beobachtet ständig die neuesten Technologietrends, sucht nach einem Vorteil, testet Innovationen und skaliert sie, wenn sie funktionieren. Wir würden diesen unternehmerischen Geist und den Durst nach Experimenten zur Verbesserung auch gerne bei den etablierten Unternehmen sehen. Dies existiert jedoch meist nur in Startups. Man sollte nicht vergessen, dass Betrieb auf Stabilität und Optimierung ausgerichtet ist. Daher lehnen operative Mitarbeiter Veränderungen schlichtweg ab; sie widersetzen sich der Innovation und ersticken sie regelmäßig bereits im Keim.
Der Appetit der Käufer wächst
Der Nachfrage nach digital-first-Spediteuren hat sich im Vergleich zum Vorjahr erheblich verbessert, da auch mehr Startups auf einen möglichen Ausstieg zusteuern. In den letzten Monaten haben wir mehreren größeren Unternehmen gesprochen und Konzerne mit einem deutlichen Appetit auf den Kauf von digital-first-Logistikdienstleistern identifiziert. Dies steht im Kontrast zum Vorjahr, als viele potenzielle Käufer eher pessimistisch eingestellt waren. Woher kam dieser Stimmungsumschwung?
Unternehmen erkennen zunehmend den Wert der digitalen Logistik – tatsächlich haben viele keine andere Wahl, dies angesichts der steigenden Lohnkosten. UPS beispielsweise sah im vergangenen Jahr seine tarifgebundenen Lohnkosten um 6,2 % pro Jahr steigen, was zu einer Gesamterhöhung der Betriebskosten von 3,3 % führte. Für eine Branche mit einer durchschnittlichen Bruttomarge von 20 % bleibt keine andere Wahl, als zu digitalisieren.
Andere sehen beispielsweise in digital-first-Trucking eine Geschäftschance, um einen separaten Geschäftsbereich aufzubauen – jedoch einen, den nur sie dank ihrer starken Bilanzen, bestehenden Beziehungen zu Transporteuren und Kunden sowie ihrer Reichweite erfolgreich aufbauen und betreiben können. Diese etablierten Unternehmen haben recht, aber der Erfolg wird auch davon abhängen, ob sie sicherzustellen können, dass solche vom Kerngeschäft sehr unterschiedlichen digital-first-Geschäfte unabhängig vom Kerngeschäft aufgebaut werden, selbst wenn dies auf Kosten der Umsätze und Gewinne des etablierten Unternehmens selbst geschieht. Wieder andere potenziellen Käufer suchen danach, ihre Geschäfte zu konsolidieren oder diese stärker auf regionale Prioritäten auszurichten.
Der Speditionsmarkt ist fragmentiert und wird weiterhin eine Konsolidierung erfahren. Einige digital-first-Spediteure haben sich starke Positionen in bedeutenden Nischen der Verkehrslandschaft erarbeitet und sind aus diesem Grund attraktive Übernahmekandidaten. Der Kauf größerer digital-first-Spediteure bietet einen Weg, die Marktpräsenz und das Kundenportfolio zu stärken und zu ergänzen, während gleichzeitig digitale Fähigkeiten hinzufügt werden. Qualifizierte Mitarbeiter sind ein weiterer Pluspunkt.
Ein grober Hintergrund: Branchentrends
Der potenzielle Verkauf von Forto findet vor dem Hintergrund stabilen Wachstums und bedeutender Veränderungen in der Landschaft der Logistiktechnologie statt. Introspective Market Research (IMR) prognostiziert, dass die globalen Ausgaben für digitale Transformation in der Logistik von 63,89 Milliarden USD im Jahr 2023 auf 128,68 Milliarden USD im Jahr 2032 wachsen werden, dies entspricht einer durchschnittlichen jährlichen Wachstumsrate (CAGR) von 8,09 % im Prognosezeitraum (2024–2032). Laut Market.us wird der globale Markt für digitale Logistik bis 2033 auf 182,9 Milliarden USD geschätzt, gegenüber 30,8 Milliarden USD im Jahr 2023. Diese Wachstumsprognose entspricht einer CAGR von 19,5 % im Zeitraum von 2024 bis 2033. Zu den Haupttreibern dieses Wachstums zählen die Expansion des E-Commerce, Fortschritte in künstlicher Intelligenz (KI) und maschinellem Lernen (ML) sowie die zunehmende Einführung von Internet-of-Things-(IoT)-Geräten im Lieferkettenmanagement und in der Logistik.
Dieses Wachstum ist jedoch ungleichmäßig verteilt. Der Markt verschiebt sich hin zu spezialisierteren und gezielteren Lösungen anstelle der allumfassenden Plattformen, die viele digital-first-Spediteure der ersten Generation charakterisierten. Der Fokus liegt zum Beispiel auf der Optimierung der letzten Meile, Echtzeit-Tracking-Lösungen und KI-gesteuerten prädiktiven Analysen zur Nachfrageprognose. Käufer digitaler Logistikunternehmen zielen neben der oben genannten Möglichkeit zur Erweiterung des Kundenportfolios und einem potenziellen regionalen Fokus auf spezifische Technologien ab. Mit der sich beschleunigenden KI-Revolution wird der Digitalisierungsdruck auf etablierte Unternehmen zunehmen – ebenso wie die Chancen.
Die zweite Generation der digital-first-Spediteure
Da die Branche reift, werden wir den Aufstieg von differenzierteren, hybriden Ansätzen sehen, die technologische Innovationen mit tiefem Branchenwissen kombinieren. Diese zweite Generation der digital-first-Spediteure wird wahrscheinlich mehrere Schlüsselmerkmale aufweisen:
- Die Bereitschaft, die eigenen Geschäftsmodelle zu disruptieren, wobei Effizienz und Kundennutzen über reines Umsatzwachstum priorisiert werden.
- Die Nutzung von Transparenz nicht nur als Dienstleistung, sondern als wichtiger Treiber für Automatisierung und Effizienz.
- Umfassende Branchen-Execution-Plattformen, die mehrere Interessengruppen auf ein einziges System bringen.
- Sie integrieren End-to-End-Dienstleistungen, einschließlich kapazitätsübergreifender Managementfunktionen über Branchengrenzen hinweg.
- Menschzentrierte, intuitive Systeme, die ein schnelles Onboarding ermöglichen und die anhaltende Bedeutung menschlicher Expertise in der Logistik anerkennen.
Der Weg nach vorn: Konsolidierung und Spezialisierung
Die Konsolidierung im Bereich der digital-first-Spedition wird sich fortsetzen. Gut kapitalisierte etablierte Unternehmen und reifere digital-first-Akteure übernehmen schwächelnde Unternehmen, um Marktpräsenz, Technologie und Talente zu erwerben. Im Februar 2025 hat C.H. Robinson den Verkauf seines europäischen Oberflächentransportgeschäfts an Sennder Technologies GmbH abgeschlossen. Solche Entwicklungen führen zu einem konzentrierteren Markt, aber auch zu einem mit robusterem Wachstum und umfassenderen Produkt- und Dienstleistungsangeboten.
Gleichzeitig werden wir eine zunehmende Spezialisierung beobachten. Einige digital-first-Spediteure könnten sich auf bestimmte Regionen, Transportarten oder Branchen konzentrieren, in denen sie tiefes Fachwissen haben und differenzierte Angebote entwickeln können, ähnlich wie viele etablierte Speditionsunternehmen. Diese Tendenz zur Spezialisierung kann helfen, eine der Hauptkritikpunkte der frühen digitalen Spediteure anzugehen – ihr wahrgenommener Mangel an branchenspezifischem Wissen und Beziehungsnetzwerken.
Fazit: Ein reifender Markt, aber kein gescheitertes Modell
Der potenzielle Verkauf von Forto ist ein Zeichen eines reifenden Marktes. Die Logistikbranche bewegt sich zweifellos in Richtung einer stärkeren Digitalisierung, aber der Weg erweist sich als komplexer und differenzierter, als viele frühe Einsteiger erwartet hatten.
Die Gewinner in dieser sich entwickelnden Landschaft werden wahrscheinlich diejenigen sein, die technologische Innovationen effektiv mit tiefem Branchenwissen verbinden und Lösungen schaffen, die die regionalen oder branchenspezifischen Bedürfnisse der Verlader erfüllen sowie die Herausforderungen der globalen Logistik und Lieferketten miteinbeziehen. Wenn der Staub sich nach dieser Konsolidierungs- und Neuausrichtungsphase legt, können wir erwarten, dass ein robusterer, effizienterer und wirklich digitaler Logistiksektor entsteht.
Über die Autoren
Wolfgang Lehmacher ist Partner bei Anchor Group. Der ehemalige Direktor beim World Economic Forum und CEO Emeritus von GeoPost Intercontinental ist Mitglied des Beirats der Logistics and Supply Chain Management Society, Botschafter von F&L, Berater bei Global:SF und RISE sowie Mitglied der Think-Tanks Logistikweisen und NEXST. Er ist Autor von “Wie Logistik unser Leben prägt” und Co-Autor von “Disrupting Logistics: Startups, Technologies, and Investors Building Future Supply Chains”.
Dweep Chanana ist Managing Partner bei Anchor Group. Er leitete mehr als 20 industrielle und technologische M&A-, Investitions- und Neugründungsprojekte mit führenden Konzernen und institutionellen Investoren. Zuvor war er Leiter der Venture-Investitionen bei Momenta Partners, Direktor für Strategie und Geschäftsentwicklung im Bereich Family Services bei UBS und arbeitete bei den Vereinten Nationen in Kenia an privatwirtschaftlichen Entwicklungsprojekten. Der ausgebildete Ingenieur, hat ebenfalls Positionen bei Lucent und Hughes inne.